Vegetarismus: Ketzerei gegenüber Gott… und Kapital?

Vegetarier, Veganer und Frutarier sind Gotteslästerer. Dennoch sollten sie nicht den Fleischkonsum anprangern, sondern Kapitalismuskritiker werden.

Ein Aspekt des Vegetarismus hat sich mir als bekennender Karnivore leider nie so recht erschlossen: Warum muss Tofu die Form von originären Fleischprodukten wie Wurst oder Schnitzel besitzen? Einst konfrontierte ich eine Freundin, die während eines gemeinsamen Grillabends ihre Tofuwurst auf den Rost legte, mit dieser Frage und erhielt eine überraschende Antwort.
Sie begründete den Zweck von Tofu in Wurstform nicht etwa mit dem Geschmack oder einer anderweitig in ihr schlummernden Sehnsucht nach Fleisch. Stattdessen erklärte sie mir, dass sie auf das Fleischsurrogat zurückgreife, um ihren Vegetarismus zu kaschieren. Bei Familientreffen musste sie beispielsweise die Erfahrung machen, sich für ihre fleischlose Ernährung rechtfertigen zu müssen, sobald sie die Tofuscheibe als solche auf den Grill legte.
Sogar in Bezug auf die Ernährung muss man sich demnach für alternative Lebensweisen rechtfertigen. Ich fand dies bemerkenswert, erkannte ich doch darin Parallelen in dem Kampf um Akzeptanz vieler Homosexueller. Egal wen man liebt oder was man isst, der gesellschaftliche Konservatismus duldet keine Abweichung von der Norm.

Blasphemie

Worin kann es begründet liegen, dass sich an der fleischlosen Ernährung derart die Geister scheiden? Bereits in der griechischen Mythologie wurden Vegetarier und Veganer mit Skepsis betrachtet. So kritisierte Theseus seinen Sohn Hippolytos für dessen Verzicht auf Fleisch. Der erste Vegetarier war der Sage nach vermutlich Orpheus, auf den sich im 5. bis 6. Jahrhundert v. Chr. die Orphiker als erste realhistorische Vegetarierbewegung beriefen.
Im antiken Griechenland wurde Fleisch eigentlich nur während religiöser Zeremonien verzehrt. Zu Ehren der Götter wurden Tieropfer dargebracht, deren ungenießbaren Teile wie die Knochen verbrannt wurden, wohingegen das Fleisch im Rahmen dieses Ritus gegessen wurde. Vegetarismus bedeutete dementsprechend, weder am gemeinschaftlichen Ritual teilzunehmen noch den Göttern zu huldigen.
Der Fleischkonsum als religiöser Akt lag nicht zuletzt darin begründet, das Prometheus den Menschen das Feuer gegen den Willen Zeus schenkte und dafür bestraft wurde. Erst durch das Feuer war den Menschen Kultur im Allgemeinen und Fleischkonsum im Speziellen möglich. Auf letzteres zu verzichten, bedeute, das Geschenk des Prometheus zu verschmähen. Die Strafe hätte er vergebens auf sich genommen.

Vegetarier als Übermensch

Von den möglichen Gründen, die mir in den Sinn kommen, Vegetarier bzw. Veganer zu werden, ist selbstverständlich die moralische Entscheidung aus freien Stücken, zum Wohle der Tiere und aus Respekt vor dem Leben auf Fleisch zu verzichten, am interessantesten und lobenswertesten. Dennoch würde ich nicht den Fleischkonsum per se moralisieren wollen.
Moral ist ein Konstrukt unserer kulturellen Entwicklung und außerhalb der menschlichen Verstandeskraft nonexistent. Dementsprechend könne man auch nicht dem Löwen vorwerfen, er würde unmoralisch handeln, wenn er die Antilope reißt. Auch der Mensch ist aus evolutionärer und anatomischer Sicht ebenso Fleisch- wie Pflanzenfresser; eine rein pflanzliche Ernährung müsste demnach als unnatürlich betrachtet werden.
Dieses Argument wird gerne von Gegnern ins Feld geführt, um den Vegetarismus zu verteufeln. Und in der tat halte ich es für einen berechtigten Gedanken, ob eine vegane Ernährung als empfehlenswert gelten darf, wenn künstliche Präparate eine Mangelernährung ausgleichen müssen. Allerdings bin ich natürlich weit davon entfernt, den Vegetarismus und seine verwandten Spielarten zu verteufeln.
Vielmehr finde ich es äußerst faszinierend, dass der Mensch aus bloßer Willenskraft heraus in der Lage ist, seine natürliche Veranlagung – in dem Fall den Fleischkonsum – zu überwinden! Es erinnert mich an Friedrich Nietzsche, der schrieb, dass der Mensch etwas ist, das überwunden werden muss. Vielleicht ist Vegetarismus ein Beleg dafür, dass wir tatsächlich in der Lage sein können, Übermensch zu werden. Ich würde mir wünschen, dass diese Fähigkeit zur Selbstüberwindung sowie der Wille zur Loslösung tradierter Lebensweisen häufiger an den Tag gelegt werden.

Vegetarier als Kapitalismuskritiker

Unmoralisches Handeln mache ich wie gesagt nicht im Fleischkonsum als solchen aus, sondern in den kapitalistischen Produktionsbedingungen, die tierisches Leben zu einer Ware degradieren. Auch die Eskimos und die Indianer töteten Tiere und aßen Fleisch, dennoch würde niemand behaupten wollen, dass sie nicht im Einklang mit der Natur lebten oder dass sie dem tierischen Leben gegenüber respektlos waren. Aber im Gegensatz zu den indigenen Völkern Nordamerikas geht uns eben jener respektvolle Umgang verloren.
Die Bisons und Wale wurden nicht nahezu ausgerottet, weil sie einfach nur gegessen, sondern weil sie kapitalistisch verwertet wurden. Die Wale sind erst gefährdet, seitdem sie als buchstäbliches Schmiermittel für die industrielle Revolution entdeckt wurden. Das Problem ist die profitorientierte Ausbeutung der Tiere als Ressource. Unmoralisch sind die dementsprechenden Produktionsbedingungen wie Massentierhaltung oder eine sinnlose Überproduktion, durch die im Dienste unserer Konsumgesellschaft ein Überangebot in den Supermarktregalen aufrechterhalten werden soll.

Verantwortungsbewusst produzieren

Der Verzehr von Fleisch ist genauso moralisch oder unmoralisch wie der Verzehr von Pflanzen. Die Vorhaltungen, die Vegetarier und Veganer den Fleischessern machen könnten, könnten die Frutarier den Pflanzenessern machen. Nur ist der Respekt vor pflanzlichem Leben noch weit weniger verbreitet als der Respekt vor tierischem Leben. Noch kommt niemand ernsthaft auf den Gedanken, in Anbetracht der Holzmengen, die IKEA für seine Möbel verschwendet, oder der nach wie vor stattfindenden Rodung des Regenwalds von einem Holocaust an den Bäumen zu sprechen.
Aber auch den Verzehr von Pflanzen würde ich ebenso wenig moralisieren wollen wie den Verzehr von Fleisch. In beiden Fällen wären die kapitalistischen Produktionsbedingungen, die mit Flora und Fauna gleichermaßen respektlos umgehen, als unmoralisch zu erachten. Aus Profitmaximierung und um die Nachfrage zu stillen, würde die industrielle Lebensmittelproduktion pflanzlicher Nahrung ebenso naturverachtende Ausmaße annehmen wie jene für tierische Nahrung, was sich anhand der Bereitschaft zur Genmanipulation von Nutzpflanzen bereits abzeichnet. Auch die frutarische Lebensweise wüssten gewiefte Geschäftsmänner sicherlich zu kapitalisieren, indem sie in einer entsprechenden Lebensmittelproduktion Mittel und Wege finden würden, damit die Pflanzen im zufriedenstellenden Ausmaß ihre Früchte „freiwillig“ abgeben.

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