Wölfe, Aliens und Nostradamus

Gerade ist Verlorenes Vernègues, der siebte Band um Cay Rademachers Helden Roger Blanc, erschienen. Der aus Paris strafversetzte Kommissar hat es in der winterlichen Provence mit Wölfen, wütenden Schäfer*innen und schießwütigen Jägern zu tun. Martin Spieß hat ihn gelesen.

Es ist Januar in der Provence, die Straßen sind vereist und die Nächte sind kalt und grau. Capitaine Roger Blanc wird nach Vieux Vernègues gerufen, die Ruine einer mittelalterlichen Stadt, die Anfang des 20. Jahrhunderts bei einem Erdbeben zerstört wurde. Es geht aber nicht um einen Mord: Wölfe haben Schafe gerissen.

Keine Angst vor Wölfen

Schäferin Clotilde Locez meint, die Tiere seien nicht auf natürliche Weise in die Provence gekommen, sondern aus Rumänien eingeschmuggelt worden. Blanc hält das für Spinnerei. Locez ist aber nicht die Einzige mit seltsamen Theorien: Dr. Maurice Fouquart, einst angesehener Wissenschaftler, schlägt sich jetzt mit Drohne und Kamera die Nächte in den Ruinen um die Ohren, um UFOs abzulichten. Angst vor Wölfen hat er nicht. Auch Dr. Marie-Claire Martin, eine Seismologin, die sich als Fouquarts Exfrau herausstellt, nicht: sie stellt immer wieder nachts ihre Messinstrumente auf und sammelt sie in den frühen Morgenstunden wieder ein. Irgendwie müsse sich doch vorhersagen lassen, wann es wo wie stark bebt.

Anders mit der Angst geht es Pierre-Henri Melleton, dem Bürgermeister des neuen Vernègues, und einem seiner Amtsmänner Jean-Paul Cordillet. Während Melleton um den Ruf seiner Gemeinde fürchtet, kann sich der trinkende und nicht gerade erfolgreiche Tischler und Jäger Cordillet nichts Schöneres vorstellen, als auf die Jagd nach Wölfen zu gehen. Wären da nur nicht Sandy Hulot, die Försterin, die die Wölfe schützen will, und Gérard Pélestor, ein offiziell bestellter Wolfsjäger, der nicht nur Cordillets Amt, sondern sogar das des Bürgermeisters bedroht. Nicht auszudenken, wenn ausgerechnet der den Wolf erlegen würde.

Präziser, kühler Sound

Anfangs haben es Blanc und seine Kolleg*innen Fabienne Souillard und Marius Tonon in Verlorenes Vernègues also gar nicht mit einem Mord zu tun. Die Geschichte, die mit den gerissenen Schafen in Vieux Vernègues beginnt, zieht ihre Spannung lange Zeit nur aus der (imaginierten) Bedrohung durch die Wölfe – den Jägern jucken die Finger am Abzug, und der Nostradamus-Experte Guy Gassonet meint sogar, die Wölfe seien für den Wahrsager die Vorboten eines neuen Erdbebens. Für ihn als Schriftsteller, der mit Nostradamus sein Brot verdient, könnte es gar nicht besser laufen, denkt Blanc.

In diesem mehr als undurchsichtigen Fall zu ermitteln, verlangt ihm schon an sich viel ab, auch ohne die plötzliche Kühle, die ihm von seiner Geliebten, der Untersuchungsrichterin Aveline Vialaron-Allègre, entgegenweht – von der winterlichen Kälte der Provence ganz zu schweigen.

Cay Rademacher versteht es in Verlorenes Vernègues wieder einmal, durch seinen präzisen und selbst etwas kühlen Sound einen großartigen Roman entstehen zu lassen. Bei diesem sind die Figuren wie gewohnt nicht nur Platzhalter*innen für die Krimi-Handlung, sondern sind entwickelte und sich immer weiter entwickelnde Menschen mit Ängsten, Zweifeln und Sorgen. Ob das nun Blancs Einsamkeit, Fabiennes Fehlgeburt und ihre kriselnde Ehe oder Marius’ Alkoholismus sind: Rademacher nimmt seine Figuren ernst – was auch für die Nebenfiguren gilt, die keine Blaupausen oder Abziehbilder sind, sondern echte Menschen mit Bürden, Vergangenheiten und Geheimnissen. Und so ist es (beinahe unnötig zu erwähnen) wieder einmal eine große Freude, Blanc und seinen Kolleg*innen beim Ermitteln und beim Leben zuzusehen.

Cay Rademacher: Verlorenes Vernègues, Dumont, 2020
Klappenbroschur, 350 Seiten 16 Euro

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