Verhängnisvolles Calès: Parforceritt durch die Provence

Cay Rademacher hat mit Verhängnisvolles Calès einen ganz anderen Provence-Krimi geschrieben als die bisherigen Bände der Reihe. Martin Spieß hat ihn gelesen.

Es ist Winter geworden in der Provence. Es duftet nicht mehr nach Lavendel und wildem Thymian, Cay Rademachers Held Capitaine Roger Blanc und seine Kolleg*innen sitzen nicht mehr im Schatten von Platanen bei Rosé, zumal Kollege Marius Tonon gerade eine Entziehungskur hinter sich hat. Polizeiautos sperren die Zugänge zu Weihnachtsmärkten ab und der Schornstein in Blancs alter Ölmühle hat den Geist aufgegeben, sodass sein Zuhause eher einem Kühlhaus gleicht.

Aber auch sonst ist es kalt geworden in der neuesten Geschichte um den in die Provence strafversetzten Blanc: Während einer Hochzeitsfeier verschwindet das neunjährige Mädchen Noëlle, was nicht nur eine großangelegte Suchaktion zur Folge hat, sondern alle Beteiligten fast ausschließlich an eins denken lässt: Pädophilie, Missbrauch, Mord.

Amok laufende Gedanken

Die Schwere dieses Verdachts zieht sich durch die gesamte Geschichte, trotz der Tatsache, dass Blanc auch in andere Richtungen ermittelt. Dabei fängt der Roman im Vergleich eigentlich ganz harmlos an: In den Grotten von Calès wird bei Ausgrabungen ein Skelett gefunden – allerdings mit einem Einschussloch in der Stirn. Der Fall aber ruht erstmal, geht es doch darum, das Mädchen zu finden. Und dessen Verschwinden lässt einen wahrlich nicht los. Auch die Provence, so scheint Rademacher in Verhängnisvolles Calès zu sagen, auch dieser so helle, leuchtende und pittoreske Ort, der bei der Lektüre der bisherigen Fälle von Capitaine Blanc immer auch Fernweh weckte, ist nicht frei von düstersten Abgründen. Abgründe, in die es alle hineinzieht, Leser*innen wie Figuren: Blanc, Marius und Computerexpertin Fabienne – die natürlich gerade jetzt bei der Bearbeitung dieses Falls schwanger ist – müssen regelrecht darum kämpfen, nicht verrückt zu werden vor lauter Amok laufender Gedanken, vor lauter Sorgen um die kleine Noëlle.

Unheimlicher Sog

Rademachers große Stärke – seine journalistische Beobachtungsgabe und seine unprätentiösen, detaillierten Beschreibungen von Landschaften, die sich bei anderen Frankreich-Krimis oft wie Reiseführerromantik lesen – kommt auch in Verhängnisvolles Calès zum Tragen. Seine zweite große Stärke – eine packende Kriminalgeschichte zu erzählen – ebenfalls. Dass sie einem bis ins Mark geht, ist neu: bei den bisherigen Fällen von Capitaine Roger Blanc ging einem die Lektüre immer recht leicht von der Hand. Hier aber fühlt sie sich streckenweise wie Arbeit an. Fast so wie die Figuren verspürt man Hoffnung und Beklemmung, Ärger und Wut, Angst und Anspannung – Rademachers neuester Krimi entwickelt einen beinahe unheimlichen Sog, was angesichts der Thematik aber auch kaum verwunderlich ist. Nicht nur Blanc fragt sich, wie es weitergehen soll mit seinem Leben, wenn er Noëlle nicht findet, auch als Leser*in fühlt man sich zuweilen aufgeschmissen bei diesem emotional aufwühlenden Parforceritt durch die Provence. Verhängnisvolles Calès ist gerade deshalb ein Glanzstück der Kriminalliteratur. Und der Fall um die kleine Noëlle geht am Ende – spoiler alert! – ganz anders aus, als mit Pädophilie, Missbrauch und Mord.

Cay Rademacher: Verhägnisvolles Calès
448 Seiten, 16,00 EUR
ISBN 978-3-8321-8366-0

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