XTausendmal Ich – Auf den Spuren der Googlegänger Teil 2

Was verbindet uns mit Menschen, die nichts mit einem gemeinsam haben als den Namen? Jan Fischer geht in seinem großen, dreiteteiligen Essay auf die Suche nach der Antwort. Teil 2 von 3.

„Es gibt gegenwärtig eine Vielzahl von Philosophen, Kognitionspsychologen, Soziologen und Kulturwissenschaftlern, die überzeugt sind, dass Geschichten für uns nicht nur ein Zeitvertreib sind; vielmehr sind sie in einem bestimmten Sinne konstitutiv für das, was wir sind. Wir wären nicht die Wesen, die wir sind, wenn wir keine Geschichten über uns und unser Leben erzählen würden.”

(Tim Henning in „Person sein und Geschichten erzählen. Eine Studie über personale Gründe und narrative Autonomie“)

An irgendeinem Punkt beginnt bei der Suche nach Googlegängern die Zeit für Geschichten. Weil ich auf den anderen, auf die Google-Ergebnisse starre wie in einen Spiegel, und nur einen anderen finde, der aber doch, irgendwie, auf irgendeine Art, etwas mit mir gemeinsam haben muss. Wenn mein Name da ist, dann muss doch auch etwas anderes von mir da sein: Das ist die Basis für das Loch, dass der andere Jan an diesem einen Abend, damals, als ich nichts wusste und mein Leben im Konjunktiv feststeckte, in mein Selbstbewusstsein bohrte. Auch, wenn ich weiß, dass das mit dem Namen nur Zufall ist. Es ist ja auch nur Zufall, dass manche Menschen Krebs sind, oder Stier, oder Löwe, aber wenn sie fest genug daran glauben, Krebs oder Stier oder sonstwas zu sein, werden sie auch immer Gemeinsamkeiten zwischen sich und anderen Krebsen, Stieren oder sonstwassen finden, mehr jedenfalls, als eine zufällige Position von ein paar Steinklumpen im Weltraum das jemals rechtfertigen könnte.
Eines meiner Lieblingsspiele, wenn es ums Erzählen von Geschichten geht, heißt „In 20 Jahren“, und es geht so: Man sucht sich auf der Straße zufällig jemanden aus. Sagt: Das bin ich in 20 Jahren. Und die Aufgabe ist, eine Geschichte zu erfinden, um die Unterschiede zwischen sich und diesem zufälligen Menschen zu überbrücken.
Oder so: Irgendwo auf einem großen, leeren Platz vor einer Schule, die er nie mehr betreten wird steht ein gerade erst ehemaliger Schüler, wird immer betrunkener, und denkt sich, während die Getränke immer weniger werden, Geschichten aus, in denen er werden könnte, wie der eine Typ, den er eben getroffen hat. Den einen Typ, den er eigentlich hasst, weil aussieht wie einer, zu dem er nicht werden will, aber auf den er auch neidisch ist, weil er ein Leben hat, das keine, große Blase aus billigen Idealismen ist.

Interdimensionale Risse

Das war der erste, damals, aber diese Leute hören ja nicht auf zu existieren. Da ist, stelle ich mir vor, ein interdimensionaler Riss tief im Erdkern, oder etwas in der Art, ein Riss, aus dem plötzlich und aus einem völlig unbegreiflichen Grund Leute krabbeln, die meinen Namen haben. Irgendwann höre ich dann immer auf zu klicken. Lehne ich in meinen Schreibtischstuhl zurück. Frage mich, wirklich und ganz ehrlich, wo das alles noch hinführen soll.
Die Sache ist die: Wenn mich meinen Namen google – in Anführungszeichen – bekomme ich 2.060.000 Ergebnisse. Wenn ich ihn bei Facebook in die Suchleiste aufgebe, habe ich nach spätestens einer Viertelstunde keine Lust mehr, ständig auf „Mehr Ergebnisse anzeigen“ zu klicken. Das Internet – und damit wahrscheinlich auch der Rest der Welt – ist voll von Menschen, die so heißen wie ich.
Es gibt ein Wort dafür: Im Jahr 2007 enstand im englischen Sprachraum das Wort „Googlegänger“, und bezeichnet alle diese Menschen, über die man ständig stolpert, wenn man sich selbst googelt. Die Wurzeln lassen sich nicht mehr nachvollziehen, ein Schachtelwort von irgendwo tief unten aus den Blogs, aber im selben Jahr wurde das Wort von der „American Dialect Society“ in der Kategorie „Most creative“ als Wort des Jahres gekürt. Die meisten Menschen haben zwei oder drei davon, wenn es hochkommt ein Dutzend. Bei mir fühlt es sich ein bisschen an wie eine Invasion.

Der Ionensturm in der Doppelpuffermatrix

Mein erster Gedanke war: Parallelwelten, und dann wollte ich diesen Absatz mit der Angabe einer Sternzeit beginnen. Sowas wie: Sternzeit: 40759,5, und dann sollte es losgehen einer Nacherzählung der klassischen Raumschiff-Enterprise-Episode “Mirror, Mirror”. Das wäre ein guter Anfang gewesen: Von der Retro-Zukunft von gestern in die Google-Gegenwart von heute. Das erste Problem dabei ist nur, dass in dieser Folge selbst Captain Kirk nicht so genau weiß, welches Datum gerade ist, und seine Logbucheinträge mit „Sternzeit: Unbekannt“ überschreibt. Und wenn so etwas passiert, dann ist, klar, die Kacke am Dampfen. Das zweite Problem ist, dass selbst das größte und komplexeste Paralleluniversen-Multiversum übersichtlicher ist als die Leben, die meine Googlegänger so führen.
Aber fangen wir vielleicht erstmal langsam an. Zurück auf die Enterprise. Irgendein windiges Plot-Device – ein Ionensturm oder so – stellt irgendetwas mit der Doppelpuffermatrix des Transportersystems an, und schon landet der Landungstrupp, der eigentlich hochgebeamt werden sollte in einer alternativen Realität, in der die Föderation der Planeten sich Empire nennt, alle bekannten Welten brutal unterdrückt, und außerdem trägt Mr. Spock unbegreiflicherweise einen Ziegenbart. „Mirror, Mirror“ ist die Enterprise-Folge, in der die stolze Tradition der Star-Trek-Paralleluniversen-Folgen begründet wird.
Paralleluniversen sind, nicht nur in der Science-Fiction, eine klassischer erzählerischer Kunstgriff. Wenn man die utopische Literatur, wie sie ab dem 16. Jahrhundert existiert nicht mitrechnet, ist – je nachdem, wie man definieren möchte – entweder Edwin Abbott Abbotts „Flatland. A Romance of many Dimensions“ (1884) oder „Sidewise in Time“ von Murray Leinster (1934) die erste wirkliche Parallelweltgeschichte. Aber darüber kann man sich vor allem mit Literaturwissenschaftlern sicherlich ganz wunderbar streiten. Mir geht es darum zu sagen, dass Parallelweltgeschichten schon ein gutes Jahrhundert mal diesem, mal in jenem Genre unterwegs sind. Tatsächlich sind solche Geschichten fast schon ein Klischee: „Akte X“ hat eine Parallelweltfolge gemacht, „Buffy – im Bann der Dämonen“ zwei, South Park eine Parodie (inklusive Referenz an Mr. Spocks Ziegenbart). Sogar bei „O.C., California“ gibt es eine Parallelweltfolge, und das ist eine Serie über das soapartige Leben reicher Jugendlicher im Kalifornien der frühen 2000er Jahre – der ganz normalen 2000er Jahre, ohne Vampire, Aliens, Zeitreisen, Magie oder ähnlichem. Der Comicverlag DC, übrigens, übertrieb diese ganze Parallelweltgeschichte, und stampfte 1985 notgedrungen das Multiversum ein, das sich über 50 Jahre Publikationsgeschichte angesammelt hatte und sich durch fast alle der vielen, vielen Erzählungen von Superheldenleben zog. Die ganzen Verstrickungen zwischen einer irrsinnig hohen Anzahl an Parallelwelten und alternativen Realitäten waren schlicht zu kompliziert geworden, niemand hatte mehr einen Überblick: Das DC-Multiversum war zu groß und unübersichtlich geworden, als dass es noch erzählerisch hätte bewältigt werden können (seit 2005 allerdings werden alle diese Universen, dieses Mal etwas geplanter als vorher, wieder aufgebaut. Außerdem gibt es nur noch 52 davon. Plus Spin-offs. Und Sondereditionen).
Fans lieben Parallelweltgeschichten, weil die Figuren, die sie kennen und lieben darin ganz andere sind, und ganz andere sein dürfen als in der normalen Serienwelt – „Mirror, Mirror“, beispielsweise, zeigt böse, erbarmungslose Varianten von Kirk und vor allem auch von Mr. Spock, ohne, dass das für den weiteren Serienverlauf irgendwelchen Konsequenzen hätte, die in mühsam gestrickten Geschichten wieder aufgelöst werden müssten. Vor allem bei Serien sind Paralleluniversen die Spielplätze der Autoren, auf denen alternative Geschichten, andere Charakterentwicklungen und Zeitlinien einfach mal so zum Spaß ausprobiert werden können – und am Ende kehren unsere Helden in das normale Universum zurück, das einzige, welches tatsächlich zählt.

Urbane Legenden

Sich selbst zu googeln und über andere zu stolpern, das kann tatsächlich sein, als träfe man seinen Zwilling aus dem Paralleluniversum: Die „Newsweek“ berichtete 2007 von einer Studentin namens Eve Fairbanks, deren Mutter ihr bei einem Mittagessen eröffnete, sie wisse von den Pornos, in denen ihre Tochter mitspiele – die Mutter hatte ihre Tochter gegoogelt und war dabei immer wieder über eine Pornodarstellerin desselben Namens gestolpert. Die Geschichte ist zwar vermutlich eine urbane Legende – zumindest konnten eigene Recherchen sie nicht belegen – aber trotzdem: Wie jede gute urbane Legende erzählt sie eine Geschichte, die gar nicht so unwahrscheinlich ist. Vor allem aber erzählt sie, wie jede gute urbane Legende von einer Urangst, in diesem Fall einer Urangst des digitalen Zeitalters: Dem Verlust der eigenen, einzigartigen Identität im Netz, oder wenigstens dem Verlust der Kontrolle darüber.
Die Geschichte vom US-Amerikaner Daniel Bejar dagegen ist wahr: Er ist kein Musiker, bekam aber plötzlich seltsame Mails, in denen Menschen ihm schrieben, dass sie berührt und begeistert von seiner Musik seien. Bejar stellte fest, dass nicht er, sondern ein gleichnamiger kanadischer Singer-Songwriter gemeint war. Bejar googelte diesen anderen Bejar, und stellte fest, dass der ihm sogar ein bisschen ähnlich sieht. Seitdem stellt er in seinem Blog „The Googleganger“ jedes Foto des Musikers Bejar nach, das er finden kann, und veröffentlicht dort auch die Fanpost, die ihn fälschlicherweise erreicht.
Beides sind kurze, intensive Kontakte mit dem Googlegänger, die sich in das Leben der anderen Personen geschlichen haben, für Außenstehende fast bis zur Grenze der Ununterscheidbarkeit: Der Plot einer Science-Fiction-Geschichte könnte genauso beginnen. Als wäre da tatsächlich eine Parallelwelt-Variante von einem selbst aus dem interdimensionalen Riss gekrochen, und hätte sich ins eigene Leben eingeschlichen. Die ganz persönliche Parallelwelt-Folge in Serienerzählung des Lebens, wenn man so will, auf jeden Fall aber erst Mal irritierend.

Zum ersten Teil des dreteiligen Essays „XTausendmal Ich – Auf den Spuren der Googlegänger“ geht es hier.

Zum dritten und letzten Teil des dreteiligen Essays „XTausendmal Ich – Auf den Spuren der Googlegänger“ geht es hier.

 

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