Chemnitz: Nichts aus der Geschichte gelernt

Deutschland erlebt dieser Tage, wie sich Hass und Rassismus offen Bahn brechen. Es wird langsam Zeit, etwas dagegen zu tun. Ein Kommentar.

Als ich die ersten Bilder aus Chemnitz sehe, in denen Menschen von Nazis gejagt und angegriffen werden, muss ich an die SA denken, und an 1932. Nein, die Nazis in Chemnitz haben noch niemanden umgebracht, der Vergleich ist also womöglich unangemessen. Aber: Die Nazis haben noch niemanden umgebracht. Also nein, der Vergleich ist nicht unangemessen.

Das sind Nazis, plain and simple

Als am vergangenen Samstag einige Tausend Neonazis in Chemnitz aufmarschieren (und sich ihnen etwa tausend Gegendemonstrant*innen entgegenstellen), bin ich in meiner Heimat, dem Wendland: Ein wunderschöner Flecken Erde im östlichen Niedersachsen, Felder, Wälder und Wiesen, malerisch durchzogen von der Elbe, die hier bis 1990 die Grenze zwischen Deutschland und Deutschland war. Aufgrund des heißen Sommers steht das Wasser der Elbe so tief, dass man zu Fuß hindurchwaten könne, heißt es. Ich fahre hin, um mir das anzusehen, und komme an einen Ort, der heute einfach nur ein Flussufer ist, irgendwo in Deutschland. Der aber auch Beweis dafür ist, dass das geht mit dem Überwinden von Grenzen.

Dass einige Grenzen und mancher Hass schwer zu überwinden sind, das kann man dieser Tage in Chemnitz sehen, das – wie ganz Sachsen – ein echtes Problem mit dem Rechtsradikalismus hat.

Und nein, das sind keine trauernden Menschen, die da aufmarschieren. Diese Menschen zeigen nicht ihre Trauer, sie tragen ihren Hass stolz vor sich her, rufen „Deutschland den Deutschen!“, „Ausländer raus!“ und „Wir sind das Volk“.

Die Menschen, die in Chemnitz marschieren, das sind Nazis, plain and simple. Und wer sich mit diesen Menschen gemein macht, sie in Schutz nimmt oder verklärt, was sie tun, der ist ein Nazi, plain and simple. Diese Menschen sind keine besorgten Bürger, sie wollen keinen Diskurs, es geht ihnen nicht um ihre Sorgen und Ängste, sondern um ihre menschenfeindliche Agenda. Und das gesellschaftliche sowie politische Klima in Deutschland macht es ihnen möglich, wieder mit stolzgeschwellter Brust und entgrenztem Grinsen den Hitlergruß zu zeigen, und Menschen, die anders aussehen, zu jagen und anzugreifen. Wenn sie könnten, wie sie wollen, sie würden diese anders aussehenden Menschen nicht nur jagen und angreifen, sie würden sie töten. Christian Stöcker schrieb am gestrigen Sonntag in seiner Kolumne auf Spiegel Online: „Nazis haben nämlich nur ein einziges politisches Ziel: Sie möchten, dass Deutschland wieder von Nazis beherrscht wird, die dann mit allen Nicht-Nazis endlich wieder Nazi-Dinge tun können. Fabriken bauen also, in denen alle, die den Nazis nicht passen, bei Bedarf umgebracht werden können: Behinderte, Juden, politische Gegner, Schwule, Lesben, und diesmal sicher auch Muslime und Menschen mit anderer Hautfarbe. Das ist die politische Meinung von Nazis.“

„Konsequent gegen die extreme Rechte vorgehen“

Und hier kommt die Politik ins Spiel. Viel zu lange hat die Bundesregierung es verschlafen, deutliche Signale gegen Rechtsradikalismus zu setzen. „Aber linke Gewalt…“ heißt es dann von irgendwoher, und der Diskurs geht flöten. Oder die Verantwortung wird gänzlich auf die Bürger*innen abgewälzt und von ihnen mehr Zivilcourage gefordert, wie es Außenminister Heiko Maas am gestrigen Sonntag in der Tagesschau sagte. Da kontert Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand ganz richtig, wenn sie im selben Beitrag sagt: „Es ist auch die Regierung gefordert und die Sicherheitsorgane. Die müssen konsequent gegen die extreme Rechte und diese Hassmobilisierung vorgehen, und nicht nur Sonntagsreden halten.“

Die Regierung ist gefordert, und Nazis kann man nur auf eine Weise begegnen: mit der vollen Härte des Gesetzes. Und man muss in einem zweiten Schritt die Strukturen verändern, in denen Rechtsradikalismus und Fremdenhass gedeihen können: mehr Bildung, Ausbildung und Jugendarbeit. Dann sorgt ein Todesfall im Rahmen eines Stadtfestes vielleicht für Trauer bei den Angehörigen, die Sache geht dann aber ihren gewohnten Gang: Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln, Täter*innen werden (im Idealfall) gefasst, es gibt einen Prozess und eine Verurteilung. Aber es ziehen keine rechtsradikalen Bürgerwehr-Schlägertruppen durch die Straßen, die sich ganz nach Alexander Gauland „unser Land und unser Volk zurückholen“ wollen.

Das fremdenfeindliche Feuer löschen

Was in Chemnitz passiert, das lässt sich schon seit Jahren in Deutschland beobachten, ohne dass die Politik das Problem anpackt: Straftaten von nicht weißen Deutschen (oder Migranten) werden instrumentalisiert, um das fremdenfeindliche Feuer weiter anzuheizen, Nazischeit auf Nazischeit zu stapeln, bis es ordentlich lodert. Und auch damit muss Schluss sein. Wenn Frau von Storch, Frau Weidel oder Herr Gauland von der AfD menschenfeindliche Scheiße reden (oder twittern), dann muss es Kontra geben. Dann müssen Fakten her und Zahlen, dann muss der Demagogie widersprochen, dann muss die Propaganda ausgehebelt werden. Dann muss der Wasserwerfer in eben dieses fremdenfeindliche Feuer wasserwerfen, dass es nur so zischt. Da muss Ruhe sein mit „Aber die linke Gewalt…“

Ich muss an 1932 denken

Aber auch das konnte man im Zusammenhang mit Chemnitz in den vergangenen Tagen immer wieder lesen. Rechte und linke Gruppen wären da aufmarschiert. Nein. Es sind Nazis aufmarschiert, und Menschen haben sich ihnen in den Weg gestellt. Man nennt diese Menschen Humanist*innen oder Demokrat*innen. Aber sie sind nicht mit einer Agenda angerückt wie die Nazis, die einen Todesfall zum Anlass nahmen und nehmen, ihren Hass auf die Welt loszulassen.

Wenn ich die Bilder aus Chemnitz sehe, wo auch immer wieder Journalisten angegriffen wurden, dann denke ich an die SA, an 1932, und ich denke daran, wie damals alles angefangen hat. Und ich schäme mich nicht nur dafür, dass es in Deutschland wieder salonfähig ist, so offen ein Nazi zu sein, dass wieder solche Bilder aus Deutschland durch die Welt gehen. Ich habe auch Angst davor, wo es hingeht mit diesem Land, das gerade so scheint, als habe es rein gar nichts aus seiner Geschichte gelernt.

Bildquellen