Entdeckung eines Kontinents: Das Magazin „Kapsel“ und Science-Fiction aus China

Kapsel ist ein Magazin, das sich mit Science-Fiction aus China beschäftigt – und auch eine kleine Entdeckungsreise auf einen unbekannten Kontinent ist.

Ohne Cixin Liu geht es nicht. Wer über Science-Fiction aus China, vor allem aber über ihre in den letzten Jahren zunehmende Popularisierung sprechen möchte, kommt an der Trisolaris-Trilogie nicht vorbei. Auch wenn dieser spezielle Hype – an dessen Höhepunkt sogar der damalige US-Präsident Barack Obama den Autor als einen seiner Lieblingsautoren bezeichnete – eher schon wieder vorbei ist. Die für 2016 angekündigte Fernsehserie zur Trisolaris-Trilogie, eine chinesische Produktion, wird wohl eher nichts (eine Verfilmung von Die wandernde Erde in die große Hoffnung für die chinesische Filmindustrie gelegt wird dagegen schon). Und auch, wenn die Trilogie einen gigantischen Bogen und eine ambitionierte Erzählung spannt: Die enthusiastischen Erneuerungsversprechen welche die Trilogie in Bezug auf die Science-Fiction aus China ausgelöst hat, müssen erst noch eingelöst werden.

Was die Trisolaris-Trilogie allerdings tatsächlich geschafft hat – zusammen mit der Tatsache, dass der erste Band, Die drei Sonnen, 2015 die prestigereichen Hugo Awards gewonnen hat und Cixin Liu (zusammen mit seinem Übersetzer Ken Liu) 2017 für den dritten Band der Trilogie, Jenseits der Zeit, für den Preis nominiert war – ist, dass sich der internationale Blick dann doch auf China richtete. Und Aufmerksamkeit dafür generiert hat, dass dort einige Schätze der Science-Fiction durchaus gehoben werden können.

Sich beständig zersetzende Schätze heben

Und gehoben werden müssen sie wirklich. Deutsche Übersetzungen der Bücher selbst bekannter zeitgenössischer Autoren gibt es – mit Ausnahme von Chan Koonchung und Hao Jingfang – kaum, englische Übertragungen sind etwas besser zu finden, dennoch rar, oft werden nur einzelne, mehrere Jahre alte Bücher übersetzt. Die auch gerne mal schon längst überholt sind. Amanda DeMarco schreibt im The Paris Review:

„Science fiction might be the genre best suited to Chinese society today; the breakneck pace of change becomes a constant, and to live in the present is to anticipate what is to come.“

Wenn Science-Fiction ein Genre ist, dass die schnelle Veränderung Chinas einfangen, weiter- und besser träumen kann, dann ist ein Buch, das in China 2004 aktuelle Zustände und Ideen aufgegriffen hat und den Westen als Übersetzung 2019 erreicht im Prinzip so aktuell wie die Zeitung von gestern. Oder vielleicht noch weniger.

Dabei ist Science-Fiction aus China – obwohl man immer wieder auf die Behauptung stößt, dass kaum 100 Autorinnen und Autoren in dem Genre aktiv sind – dafür geeignet, China abseits der üblichen Kreischerei von Dystopie und Zensur ein wenig mehr verstehen zu lernen. Auch und gerade über Romane, die in – um ein vorsichtiges Wort zu wählen – Sonderfall-Regionen wie Hong-Kong oder Taiwan entstanden sind und sich mit deren spezifischen Problemen beschäftigen.

„Die westliche Science-Fiction macht den chinesischen Leser mit den Ängsten und Hoffnungen der Menschheit vertraut, mit jenem modernen Prometheus, der selbst Herr über sein Schicksal ist. Vielleicht kann der westliche Leser durch die chinesische Science-Fiction Bekanntschaft mit einer alternativen chinesischen Moderne machen und sich zu einem neuen Modell unserer Zukunft inspirieren lassen.“

schreibt die Autorin und Literaturwissenschaftlerlin Xia Jia (bürgerlich Wang Yao) in einem lesenwerten Essay zur Geschichte chinesischer Science-Fiction.

Es geht hier also um nicht weniger als die Entdeckung eines ganzen Kontinents – und zwar eines Kontinents, der sich vor den Augen desjenigen, der ihn entdecken will sofort zersetzt, verändert und neu zusammenbaut. Spekulative Fiktion wird unter solchen Umständen schnell zur Zeitkapsel, die vergangene Ideen bewahrt – aber auch, wie Xia Jia schreibt, zu einem Genre, das alternative Entwicklungsstränge von Technologie und Gesellschaft aufzeigen und unter dem Mantel von Fiktion auch anmahnen kann.

Die Kapsel als kleiner Vorstoß ins Unbekannte

Ein kleiner Vorstoß auf den literarisch vernachlässigten unbekannten Kontinent chinesischer Science-Fiction ist das Magazin  Kapsel, das jetzt in der zweiten Ausgabe im Hildesheimer Fruehwerk Verlag erschienen ist. Die zweite Ausgabe enthält – in erster deutscher Übersetzung eines Textes der Autorin überhaupt – die Short Story In den Wolken (erschienen 2012) von Xia Jia. Den Text gibt es sowohl in der Übersetzung als auch im Original, dazu ein ausführliches Interview mit der Autorin. Und, als fantastisches, bescheiden hinterher geschobenes Bonusmaterial, noch einen Text von Dietmar Dath. Dazwischen mogeln sich schicke Illustrationen, oder besser: Grafiken von fünf Illustratoren und Illustratorinnen, die man sich allesamt aus dem Heft reißen und an die Wand pinnen möchte. Die Kapsel ist dabei unaufgeregt – zwei Geschichten, ein Interview, ein paar Leserbriefe, die teilweise geradezu meditativen Grafiken.

Und trotzdem ist diese zweite Ausgabe – in all ihrem Minimalismus und ihrer Unaufgeregtheit – ein spannender Blick in die chinesische Science-Fiction. Einmal, weil es in der Geschichte In den Wolken um die Insel Xiamen geht, deren einer Teil durch den Klimawandel untergeht und deren anderer Teil als Touristenparadies in den Wolken schwebt – ein Setting, das sich durchaus als Allegorie auf eine immer weiter auseinander klaffende Arm-Reich-Schere lesen lässt. Die in China nicht unbekannte Autorin Xia Jia erzählt die Geschichte ruhig, beiläufig, stellenweise wie ein Märchen, vor allem aber mit liebevoller Nonchalance. Das zugehörige Interview mit der Autorin und Literaturwissenschaftlerin bietet einen Einblick in ihre Produktionsprozesse, ihr Leben – und vor allem auch in die junge Science-Fiction Szene in China abseits solcher Giganten wie Cixin Liu.

Die Kapsel ist damit einen lohnenswerte, geführte Expedition in eine Gegend der Science-Fiction-Literatur, die zumindest im Westen größtenteils noch unerforschtes, vielleicht sogar beängstigend großes Gebiet ist. Aber solange ein Magazin wie die Kapsel ihre Leser so sorgsam und ruhig an die Hand nimmt, ohne unangenehm belehrend zu sein, sollte es nicht zu schwer sein, das Unbekannte Stück für Stück zu erkunden.

Kapsel 02. Fantastische Geschichten aus China.
Fruehwerk Verlag, Hildesheim, 2019
ISBN: 978-3-941295-18-6
74 Seiten, 10 €
www.kapsel-magazin.de

Bildquellen

  • IMG_20190126_154028: Bildrechte beim Autor
  • IMG_20190126_154003: Bildrechte beim Autor