Interviewreihe „Davon leben“ – Interview mit Heike Matthiesen (Klassische Gitarristin)

Diese Woche in Davon leben: Die klassische Gitarristin Heike Matthiesen über ihre Rebellion, Flamencogitarristinnen, Resilienz und ihre Idee, Archäologin zu werden.

Kunst machen – klar. Aber davon leben? Für Davon leben trifft Martin Spieß sich mit Künstlerinnen und Künstlern an der Peripherie des ganz großen Erfolgs. Dort, wo es wenig Geld, aber viel Leidenschaft gibt. Heute im Gespräch: Heike Matthiesen, 47, eine deutsche klassische Gitarristin. Sie hat Konzerte auf vier Kontinenten gespielt und mehrere Alben veröffentlicht. Sie lebt in Frankfurt am Main.

Du bist 1969 in Braunschweig geboren, als Tochter einer Musikerfamilie, und mit vier Jahren hast du Klavierunterricht bekommen. Ging das so linear weiter, direkt hinein in das Leben als klassische Gitarristin? War immer klar, dass du Musikerin werden würdest?

Überhaupt nicht. Ich habe ja mit der Gitarre viel zu spät angefangen, um die üblichen Wege zu gehen. Ich habe nie bei Jugend Musiziert gespielt, war nie auf den Radaren der Talentsucher, habe mich dadurch auch erst viel zu spät auf die internationalen Wettbewerbe getraut und deswegen dann auch keinen einzigen gewonnen. Man braucht da oft Jahre, um sich hochzuarbeiten. Und ich wollte eigentlich als Kind niemals Musikerin werden, ich stamme aus einer Familie von Profimusikern und kenne so alle Nachteile eines solchen Lebens. Heute sage ich, es hat mich perfekt auf mein heutiges Leben vorbereitet. Es kam auch für mein ganzes Umfeld sehr überraschend, dass ich dann nach der üblichen Teenie-Antiklassik-Revolte plötzlich Gitarre lernen wollte. Ich war mein ganzes Leben von Spanien fasziniert, das brach dann durch. Und dann war ich zwar sehr schnell jemand, der aktiv spielte, in der Oper und unendlich viel Kammermusik, aber erst die Begegnung mit Pepe Romero hat mir klar gemacht, dass da noch ganz anderes möglich ist.

Ich hatte gehofft, dass es so etwas wie eine Teenie-Antiklassik-Revolte gab. (lacht)

Und die war heftig!

Inwiefern?

Ich wollte gar keine Klassik mehr hören, bin nur noch feiern gegangen und wollte bitte irgendetwas vollkommen Normales machen! Ein heimlicher Berufswunsch war Archäologie, ich hätte gerne irgendeine unbekannte Mayasprache entschlüsselt. Aber eigentlich war es vor allem eine wilde Partyzeit. Später habe ich gesehen, dass so viele meiner von Kindheit an gedrillten StudienkollegInnen irgendwie noch nie richtig gelebt hatten, die kannten ja nichts außer üben. Als ich an die Hochschule kam, dachte ich, die wären alle so wie ich, aber Pustekuchen! Die konnten ja zum Teil noch nicht mal Billard spielen!

Ich bin mit einem Billardtisch im Wohnzimmer aufgewachsen, ich verstehe deine Frustration.

Beneidenswert. (lacht) Als Musikerin ist es ja immer wieder eine ähnliche Situation wie bei Schauspielerinnen: „Welche Emotionen kann man rüberbringen, also beim Zuhörer auslösen?“ Als Opernsängerin sollte man ja wirklich nicht morden müssen, um glaubhaft zu sein, aber jeden Abend stirbt da irgendwer auf der Bühne. Und auf dem Instrument muss man auch ein riesiges Spektrum an Emotionen kennen, um sie auszulösen. Man kann viel davon aus anderer Musik, aus Büchern, Filmen und so weiter lernen, aber es hilft doch, wenn man selber eine Geschichte hat, die nicht nur aus Einzelhaft am Instrument besteht.

Diese Revolte gehabt zu haben machte und macht dich also zur gefühlvolleren Musikerin.

Nein, aber ich habe mehr gelebt und dadurch eine größere Palette. Es heißt ja nicht zwangsläufig, dass jeder Rock&Roll-Lifestyle automatisch zu guter Musik führt. Dann würde man ja dauernd Hotelzimmer zerlegen anstatt zu üben!

Ich glaube, die Zeit, in der Musiker Hotelzimmer zerlegt haben, ist vorbei. Schriftsteller sitzen ja auch nicht mehr am schweren Eichentisch, tippen auf der Schreibmaschine, während neben dran die Whiskeypulle steht.

Schade eigentlich.

Ich finde das ganz gut so. Klischees sind meistens langweilig.

Stimmt.

Wie kam es denn, dass die Gitarre bei der Revolte nicht zerbrach? Wie fandest du den Weg zurück von den Parties zur klassischen Musik? Durch die Faszination für Spanien und das Kennenlernen von Pepe Romero, bei dem du später Meisterschülerin warst?

Ich fand Spanien schon als kleines Kind toll, meine Eltern mussten mir Flamencoplatten kaufen! Es ist nicht rational erklärbar. Und das Absurde: Gitarre war ja nicht Klassik, weil nicht Oper, nicht Sinfoniekonzert und durch die Flamencoeinflüsse nicht Teil des familiären Hochkulturwertekosmos. Es war eigentlich das einzige klassische Instrument, in dem ich die Revolution fortsetzen konnte.

Wie lief das konkret? Mitten in den Parties wolltest du plötzlich Gitarre lernen und Flamenco spielen? Es wäre ja viel mehr Revolte gewesen, wirklich Archäologin zu werden, und deinen Hochkulturwertekosmos-Eltern so einen noch viel monströseren Fuckfinger entgegenzustrecken.

Man hat auf Parties ja auch immer wieder Gitarre gehört. Leute mit einer Klampfe gehörten ja auch dazu. Und ich fand den Klang von Gitarren immer so schön. Ein Freund von mir hatte dann die Adresse von diesem Lehrer, und dann ging alles sehr schnell.

Wie alt warst du da?

Ich hatte mit 18 die erste Stunde Unterricht.

Und nur ein Jahr später hast du bei Heinz Teuchert Gitarre studiert. Unter anderem mit dessen Gitarrenfibeln habe ich übrigens das Gitarre-Spielen gelernt. Wie so viele Kinder in den 90ern, würde ich vermuten.

Als ich damals mit 18 Jahren mit so ein bisschen selbst zusammengesuchtem Zeug zu Teuchert kam, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen, fing aber sofort an, mich zu unterrichten, und sagte auch, dass er mich in einem Jahr an die Hochschule kriegt. Später erzählte er mir, dass ihn mein interessanter Fall gereizt hätte: Dass jemand schon vollständiger Musiker ist (danke, Hochkultur!) , aber eben noch keinerlei Gitarre spielen kann. Er sah das als Herausforderung. Heute staune ich, wie ich damals einfach direkt zu Teuchert traben konnte. Ich bin ihm unendlich dankbar.

Weil die Ausbildung bei ihm letztlich verantwortlich ist für deinen Erfolg?

Ja, weil ein Lehrer solcher Klasse diese „Mission Impossible“ hinbekam. Jeder andere hätte gesagt: „Auweia, zu spät!“ Er machte mich zur Gitarristin, durch Pepe Romero wurde ich später zur Vollprofisolistin.

Wie kam es denn zum Treffen mit Romero?

Ich bin zu einem Meisterkurs gegangen, einfach nur, weil er in Lübeck war, der Stadt, aus der meine Mutter stammt, und in der meine Großmutter lebte. In Frankfurt an der Musikhochschule, an der ich studierte, galt Romero als der, „der nur für das Publikum spielt“, und das war kein Kompliment, es war also keine Wahl passend zum Klima der Musikhochschule, in der die hehre Kunst gepflegt wurde. Allerdings hatte ich als Kind schon eine Platte von ihm und war deswegen sehr neugierig. Und fürs Publikum zu spielen fand ich schon immer sehr positiv! Im Kurs war es dann wie ein Pakt, den wir schlossen. Er fragte: „Was willst Du lernen?“ Ich sagte: „Alles, was ich brauche.“ Er zerlegte mich dann so, dass ich erstmal gar nicht mehr spielen konnte, und setzte alles neu zusammen. Und er kann alles vermitteln, was man für die Bühne braucht, auch das berühmte Mentale: Wann man an was denkt, wie man sich fokussiert, wie man wirklich als Bühnenprofi arbeitet. Hochschulen bringen das ja leider seltener bei.

Fürs Publikum spielen heißt in dem Zusammenhang, gegen die Kunst zu spielen, sich anzubiedern?

Es ist immer wieder diese übliche Diskussion: „Wie sehr darf oder soll Kunst sich nicht um die Zuhörer, Leser, etc. kümmern und einen eigenen Weg gehen, ohne Rücksicht, ob es jemand mitbekommt oder versteht?“ Der berühmte Elfenbeinturm. „Ist Kunst auch etwas, das auf höchstem Level die Leute auch direkt erreichen kann? Spielt man Stücke, egal ob sie jemand hören möchte?“ Ich benutze den Ausdruck „fürs Publikum spielen“ als großes Kompliment, weil ich möchte, dass mein Publikum einen tollen Abend hat – ohne Anbiederung! Trotzdem gilt: Wenn Kunst zum Beruf wird, muss man diese Grenzen immer wieder neu ausloten. „Wo stehe ich moralisch voll dahinter und wo ist etwas nur ein Geldjob?“

Die Grenzen zwischen der Kunst und dem Dienst am Publikum?

Genau.

Und wie ist das bei dir?

Ich versuche immer wieder, Programme zu bauen, die Ungehörtes beinhalten wie zum Beispiel jetzt mit meinen Komponistinnen. Andererseits habe ich das Glück, dass ich Stücke wie etwa die Alhambra so liebe, dass es für mich niemals nervend ist, sie so oft zu spielen. Ich blödle dann zwar gerne mal, dass die Alhambra mein Hotel California ist, aber das ist sehr liebevoll gemeint. Und das ist etwas, dass wir Klassiker von der Popmusik lernen können: Dass man eben solche Evergreens hegen und pflegen und niemals unterschätzen sollte, wie gerne das Publikum sie hört.

Das klingt nicht, als falle dir das „Ausloten der Grenzen“ schwer.

Stimmt, und ich versuche da auch wirklich konsequent zu bleiben, dass ich immer in den Spiegel gucken kann. Andererseits ist es oft nicht einfach: Ich lebe ja komplett nur vom Spielen.

Wo wir grad bei „schwer fallen“ sind: Ist Musik von Komponistinnen zu spielen eine Herausforderung? Ich kenne es aus der Literatur genauso wie aus der Musik aus eigener Erfahrung, und ich habe es im Rahmen dieser Serie immer wieder auch von anderen Künstlerinnen gehört, dass sie es schwerer haben, als ihre männlichen Kollegen. Ist das auch deine Erfahrung, gerade mit diesem Schwerpunkt?

Gitarre ist immer noch ein sehr männergeprägtes Instrument, auch als Klischeebild in den Köpfen der Menschen: Der schicke Latino, der für die Dame seiner Wahl klampft. Es gibt überhaupt erst in den letzten paar Jahren professionelle Flamencogitarristinnen, dort ist es noch krasser. Und generell passen die hohen Zahlen von Musikstudentinnen nicht zu den Zahlen danach im professionellen Leben. Bei jedem Sinfonieorchester, dass ich sehe, zähle ich erstmal Frauen, bevor es losgeht!

Und was ergibt das Zählen?

Manchmal nur eine Handvoll, manchmal einige in den Streichern, aber seltener in den eher solistischen Bläsergruppen. Es hat Prozesse und Skandale zu dem Thema gegeben. Und inzwischen ist das auch immer wieder ein Thema in den Medien.

Spielst du deswegen hauptsächlich als Solistin, weil du dich dieser Männerdomäne nicht aussetzen willst oder hat das einen anderen Grund?

Der Grund ist ein anderer, ja: Es gibt keine festen Orchesterstellen für GitarristInnen. Wann immer in einem Stück tatsächlich mal eine Gitarre gebraucht wird, wird ein Freelancer dazugekauft. Man ist also automatisch freischaffend.

Freischaffend, aber du kannst davon leben, richtig?

Ja, und das ist ein Wunder.

Weil?

Viele meiner Kollegen haben einen Einkommensmix, in dem immer Unterrichten dabei ist, ich bin komplett frei. Ich habe viele verschiedene Soloprogramme, und ich arbeite auch in allerlei Kammermusikbesetzungen. Es war eine Hopp-oder-Topp-Entscheidung, den scheinbar so sicheren Weg zu verlassen und nicht mehr zu unterrichten. Aber wenn man keinen Plan B mehr hat, funktioniert der Plan A.

Hat das für dich tatsächlich so funktioniert? Viele der Künstlerinnen und Künstler, mit denen ich gesprochen habe (und auch ich selbst), haben große Schwierigkeiten, überhaupt irgendeinen Plan zum Funktionieren zu bekommen.

Ich arbeite wie bekloppt. Neben dem Üben verbringe ich viele Stunden mit Mails, Telefonaten, Social Media und so weiter. Und im Laufe der Zeit hatte ich mir dann irgendwann einen Ruf erarbeitet. Es ist mühsam, man braucht eine unendliche Geduld, man muss „Nein“ sportlich nehmen können, Unsicherheit aushalten. Und man muss genau wissen, welche Annehmlichkeiten im Leben unwichtig sind. Ich brauche zum Beispiel kein fettes Auto. Man muss aber vor allem gesund bleiben. Ich versuche zuhause, wenn ich nicht auf Tour bin, jeden Tag irgendetwas zu machen, Yoga oder so. Ich würde niemandem zu diesem Beruf raten – und würde doch niemals tauschen wollen.

Wenn du niemandem dazu raten würdest, wieso würdest du genauso wenig etwas anderes machen wollen?

Weil ich immer wieder unendlich glücklich bin, wenn ich dann wirklich auf der Bühne sitze und für Menschen inklusive mich spiele – und im Idealfall einfach perfekte Musik höre, die zufällig von meinen Händen gemacht wird.

Und dafür nimmst du die Widrigkeiten in Kauf, erträgst Rückschläge, finanzielle Engpässe oder grüblerische Phasen?

Genau.

Wie machst du das? Wie hältst du die negativen Seiten aus? Was tust du konkret, wenn du melancholisch bist, grübelst oder zweifelst? Wenn du eine schlechte Kritik oder negative Social-Media-Kommentare gelesen hast und alles hinschmeißen willst?

Es ist eine emotionale Achterbahn, der Glücksrausch auf der Bühne, die langen Stunden Üben, all der Unbill des Alltags. Ich habe offensichtlich eine hohe Resilienz, was ich für die wichtigste Qualifikation für einen Profimusiker halte, und ich bin sehr hartnäckig. Ich konnte als Kind schon kaum ein Puzzle aufhören, bevor es fertig war, bei 3000 Teilen dann doch schwierig an einem Nachmittag. (lacht) Ich habe es immer als Herausforderung gesehen und dann geguckt, was ich ändern kann oder sollte. Ich habe das Profi-Dasein begonnen mit dem inneren Deal: „Zwei Jahre Vollgas, dann gucken, ob es geht.“ Ich könnte nie mit einer „Was wäre wenn?“-Lebenslüge leben. Und die zwei Jahre verlängere ich täglich. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich es nicht durchgezogen hätte.

Und heute bereust du nichts.

Eher nur Dummheiten im Detail, aber grundsätzlich nichts, nein. Es ist manchmal auch ein riskanter Mechanismus, dass ich jedes Kontra als Herausforderung sehe, aber da hat mir die Beschäftigung mit Taichi geholfen, dass man manches auch elegant ins Leere laufen lassen kann. Und Gitarre eben ist eine wunderbare meditative Therapie. Ich werde unleidlich, wenn ich nicht genug übe! (lacht)

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Bildquellen

  • Heike Matthiesen, blue dress: Peter Schöneberger