Porn Film Festival Berlin: Ist Pornotopia eine Insel?

Zum zehnten Mal zeigte das Porn Film Festival Berlin vom 21. bis 25. Oktober 2015 alternative Spielarten der Lust – und ihrer Darstellung.

Porno ist nicht gleich Porno. Zu erkennen, dass das Porn Film Festival Berlin eher wenig zu tun hat mit Veranstaltungen wie zum Beispiel der Erotikmesse Venus, die nur drei Tage vor dessen Beginn am 21. Oktober in Berlin endete, ist bereits von weitem nicht allzu schwer. Die Cartoon-Sexpuppen beiderlei Geschlechts, die auf dem Programmheft als Maskottchen durchs All schweben wie Sandra Bullock und George Clooney in Gravity (nur eben ein wenig steifer), lassen Humor erahnen. Das Moviemento am Kottbusser Damm in Kreuzberg, in dem ein Großteil des Festivals stattfindet, ist nicht nur Deutschlands ältestes noch betriebenes Kino. Es verströmt eine unaufdringliche Atmosphäre des Alternativen, Abseitigen, Anspruchsvollen. Auch schon außerhalb des Festivals.

Something completely different

Der Blick ins Programmheft schließlich lässt keine Zweifel mehr zu. Ein Themenschwerpunkt heißt „Sex und Behinderung“, Rosa von Praunheim diskutiert anlässlich seines neuen Films Härte über „Frauen als Sexualtäterinnen“, Dokumentationen erzählen von Sexarbeiterinnen und Aktivisten, Kurzfilmprogramme zeigen „Experimental Porn“ oder „Political Porn“, im Rahmenprogramm finden Podiumsdiskussionen, Performances, Ausstellungen und Workshops statt. Hier passiert keine Leistungsschau einer Pornoindustrie, die zwischen Silikon und Routine ihre Hochglanzprodukte verkauft. Hier geht es um alternative Spielarten der Lust. Und ihrer Darstellung. Das ist ganz und gar nicht harmlos und will es auch in keiner Sekunde sein. Im Gegenteil: Bewusstheit und Bewusstmachung spielen ein große Rolle in diesem Festival. Ebenso wie Selbstbewusstsein, Stolz, Selbstverständlichkeit und Würde.

Porno und Gesellschaft

Festivalleiter Jürgen Brüning gibt sich auch im zehnten Jahr politisch: „Wer diskutiert meine Homosexualität, wer verhandelt unsere Sexualität und Geschlechteridentitäten innerhalb der Gesellschaft? Wer führt die Deutungshohheit in dieser Frage? Es sind die Arschlöcher*_Innen der besitzenden und herrschenden Klasse, die die Meinungsmehrheit mit ihren Machtinstrumenten manipulieren“, schreibt er im Vorwort des Programmheftes. Und: „Das Pornfilmfestival Berlin hat einen öffentlichen Raum erschaffen, wo sich für fünf Tage Menschen treffen, die in ihren Meinungen noch nicht festgelegt sind. Sie stellen die Deutungshohheit der Meinungsmehrheit in Frage und hinterfragen sich auch ständig selbst. Mal kämpferisch, meistens launig und immer lustvoll.“ Brüning sieht sein Festival als Schritt auf dem Weg zu einer Welt ohne normative Einschränkungen bei der Darstellung von Sexualität. Das Porn Film Festival will Grenzen auflösen, Durchlässigkeiten schaffen. Längst haben zwar explizite Darstellungen von Lust und Leidenschaft das Arthouse- und sogar das Mainstream-Kino erreicht. Längst werden auch dort nicht mehr die immer gleichen Geschlechterklischees reproduziert, wenn es zur Sache geht. Einst Undenkbares ist im Laufe der Jahrzehnte sogar zeigbar geworden. Für die Festivalmacher ist das allerdings nicht genug: „Trotzdem hat sich in der kulturellen Landschaft wenig geändert. Wir erinnern uns auch an Alice Schwarzer und Andrea Dworkin und ihre PorNo Kampagne.“

Definitionen

Alice Schwarzer geht es bei ihrer Ablehnung von Pornographie vor allem um die Erniedrigung von Frauen, die sie in einer Vielzahl von sexuellen Konstellationen für gegeben hält. So spielt es für sie zum Beispiel keine Rolle, ob Gewalt oder Dominanz einvernehmlich ausgeübt werden. Sie lehnt jede Spielart von BDSM, also auch Bondage oder sexuelle Rollenspiele kategorisch ab. Jürgen Brüning und seinen Kuratorinnen und Kuratoren (beim diesjährigen Festival: Paula Alamillo, Manuela Kay, Claus Matthes und Jochen Werner) geht es hingegen um Offenheit, Bandbreite und Diversität. Für sie ergibt sich der Mehrwert von Porno im weitesten Sinne genau daraus, möglichst viel denken, zeigen und schauen zu dürfen. Dabei stehen Freiheit und Verantwortung im Mittelpunkt. Eine selbstbestimmt ausgelebte Sexualität welcher Ausrichtung auch immer steht als Gegenentwurf zu gesellschaftlichen Normen und Einschränkungen für den freien Willen des Menschen. In den Filmen des Festivals ist eine Reduzierung auf ausschließlich sexuelle Handlungen eher selten. Lediglich in einigen sehr fokussierten Beiträgen der Kurzfilmprogramme spielt der Kontext keine wesentliche Rolle. Ansonsten denkt eine Perspektive auf frei gelebte Sexualität als Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung jegliche Art von Bezügen selbstverständlich mit. Es werden Menschen gezeigt und keine Objekte. Soziale, politische und biografische Implikationen werden greifbar. Jenseits des stupiden Rein-Raus-Marathons industrieller Pornographie werden Geschichten erzählt. Und seien sie noch so abstrakt, angedeutet oder offen. So gesehen mögen viele der Festivalbeiträge der juristischen Definition von Pornographie durch den Bundesgerichtshof nicht einmal entsprechen: „Als pornographisch ist eine Darstellung anzusehen, wenn sie unter Ausklammerung aller sonstigen menschlichen Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher, anreißerischer Weise in den Vordergrund rückt und ihre Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf das lüsterne Interesse des Betrachters an sexuellen Dingen abzielt.“

Pornotopia

Zweifellos ist das Porn Film Festival in seiner Gesamtheit nur schwer zu greifen. Gerade aufgrund seines hohen Anspruchs an Diversität fasst es unzählige parallele oder gar widersprüchliche Perspektiven zu einer fünftägigen Manifestation radikaler Toleranz zusammen. Dies gilt sowohl für die Filmauswahl als auch für die Gemeinschaft, die auf Zeit im Moviemento zusammenfindet, um bei aller Individualität eine vage kollektive Utopie zu denken. Und vielleicht sogar ein wenig zu leben. Geschlechterdifferenzen werden äußerst durchlässig und verlieren durchaus an Bedeutung. Ob hetero, bi, schwul, lesbisch, trans, inter oder was auch immer: Die Anzahl sexueller Identitäten auf diesem Festival scheint der Anzahl seiner Besucherinnen und Besucher zu entsprechen. Klischees und Vorurteile treten zurück, eine generelle Wertschätzung anderer scheint die Regel zu sein. Fast könnte man auf die Idee kommen, die gedankliche und emotionale Weite des Gezeigten übertrage sich in der Projektion auf die Schauenden. Als konstituiere sich für die Dauer des Festivals ein Pornotopia, wie es der Literaturkritiker und Emeritus der Columbia University Steven Marcus im Jahr 1966 in seinen Betrachtungen viktorianischer Pornographie behauptete. Längst wird der Begriff auch darüber hinaus für Übertragungen sexueller Narrationen auf die Konstruktion einer gelebten Struktur verwendet.

Transsexual Transylvania

Natürlich ist es kein Zufall, dass mit der Rocky Horror Picture Show ausgerechnet jener Film als „Special Screening“ das Mitternachtsprogramm des ersten Festivaltages bestreitet, der in den exakt 40 Jahren seines Bestehens möglicherweise am meisten Pornotopia erzeugt hat. Als das Moviemento in den 1970er Jahren noch Tali-Kino hieß, war es Pilgerstätte der Berliner Rocky-Horror-Gemeinde, die auf einer kleinen Bühne vor der Leinwand für jeweils einen Abend nach Transsexual Transylvania reiste. Das Porn Film Festival fühlt sich tatsächlich ein wenig an wie eine Nacht in Dr. Frank N. Furters utopischem Schloss/Raumschiff: „Don’t dream it, be it.“

Und ein wenig fühlte sich dessen Geschichte ja auch wiederum immer an wie die des kleinen schottischen Ortes Brigadoon, der nur einmal in 100 Jahren aus dem Nebel auftaucht, um unbeschwert lebenslustig zu feiern, singen und tanzen. 1954 verfilmte Vincente Minelli das entsprechende Erfolgsmusical unter anderem mit Gene Kelly – als frühe, biedere Version des Traums, einer restriktiven Gesellschaft zu entkommen. Die Community auf Zeit, die sich während des Porn Film Festival aus heterogensten Menschen mit recht ähnlichen Grundwerten konstituiert, ergreift durchaus die Gelegenheit, ihre Träume und Bedürfnisse auch außerhalb der Kinosäle zu leben. Während bei der großen Abschlussparty am Samstag eher auf der Tanzfläche gefeiert wird, spiegelt die Festival Lounge an den ersten drei Abenden den Charakter des Festivals recht genau. Sie findet im etwas ranzigen Schwulenclub Ficken 3000 statt. Auf engstem Raum ist es absolut naheliegend, mit fremden Menschen ins Gespräch zu kommen. Die Wahrscheinlichkeit, auf Gleichgesinnte zu stoßen, ist dabei enorm. Das funktioniert sogar im Keller des Clubs, der als Darkroom eingerichtet ist: ein Labyrinth aus Gängen und Räumen, die unterschiedlich spärlich beleuchtet sind. Da sich die Gelegenheit, einfach mal unverbindlich durch einen Darkroom zu schlendern, eher selten bietet, und da fast alle Festivalbesucherinnen und -besucher neugierige, aufgeschlossene Menschen sind, wird es bald recht voll in diesem Keller.

Metaporno

An dieser Stelle kommt das Ich in den Text. Noch viel mehr als bei anderen Festivals erlebt beim Porn Film Festival jede und jeder sein ganz eigenes Programm. Das liegt vor allem an der großen Heterogenität des umfangreichen Angebots. Von experimentellen Fetisch-Kurzfilmen bis zu sozialkritischen Spielfilmen mit einigen unverblümten Sexszenen reicht die Bandbreite. Ich entscheide mich bei der Vorabplanung, mein Festival durch zwei Programmpunkte einzurahmen, die das Thema Porno auf einer Metaebene betrachten. Zum einen ist das der Workshop I’m so horny: How to watch Porn and take care of my arousal von Sandra Lindner und Dominik Frangenheim. Es geht um den eigenen Pornokonsum. Die Gruppe ist klein, schnell tauschen sich alle mit wechselnden Gesprächspartnern entlang vorbereiteter Fragen in größter Offenheit aus. Über Vorlieben, Erfahrungen, Kategorien, Geilheit und den Umgang damit. Bis ins kleinste Detail: Welche Sounds erregen mich? Wie genau fasse ich mich beim Pornokonsum an? In welchen Situationen bekomme ich Lust, mir Pornos anzusehen? Die Reflexion eigener Gewohnheiten ist ein guter Einstieg ins Festival. Aber noch viel wertvoller sind die Geschichten der anderen. Denn sie zeigen eindrucksvoll, wie unberechenbar und irrational unser Umgang mit der visuellen Lust ist. Wie sehr oft rationale Erkenntnisse und Ansprüche im Widerspruch zu Instinkten stehen. Dass sich auch feministische Aktivistinnen gelegentlich ratlos ihren Vergewaltigungsphantasien hingeben. Dass Masturbation oft ein Ritual ist und manchmal ein Fest sein kann, mit Wein und blutigem Rindersteak als Rahmenprogramm. (Ein etwas ausführlicherer Text von mir über den Workshop erscheint im Blog Lvstprinzip.) Den Abschluss meines Festivals bestreite ich mit dem Dokumentarfilm Not safe for work. Filmemacher Hendrik Schäfer erzählt darin von seiner Begegnung mit einem Online-Exhibitionisten, den er zunächst einlädt, sich vor seiner Filmkamera zu inszenieren, um ihm später die Möglichkeit zu bieten, bei einem eigenen kleinen Pornodreh mit professionellen Bedingungen Regie zu führen. Der Selbstdarsteller, der auf keinen Fall Narzisst genannt werden möchte, lässt sich dabei beobachten, wie er beginnt, eigenes und fremdes Beobachten zu hinterfragen.

Kurzfilme zwischen Komik und Ekel

Experimentelles und Essayistisches steht während des Festivals neben Groteskem, Trashigem und Komischem. Gerade in den Kurzfilmprogrammen prallen Erzählhaltungen aufeinander. „Fun Porn“ beginnt mit dem sehr lustigen Fuck me in the ass cause I love Jesus von Oats and Garfunkel, der ganz nebenbei die Bigotterie fundamentalistischer Christen entlarvt: Um vorehelichen Sex haben zu können, nutzen viele High-School-Kids „God’s Loophole“, da die Bibel Analverkehr nicht ausdrücklich verbietet.

http://www.dailymotion.com/video/x2ldrjg

Das Musik- und Puppenvideo Sticky Biscuits: Sock Puppet von Marc Seestädt thematisiert mit einer eher ungewöhnlichen Metapher die Lust am Fisting.

Nicole Asher zeigt die wohl schrägste Verfilmung von George Batailles Story of the eye – das Ekel-Musical ist eher etwas für Freunde des Abseitigen. Noch schräger wird es mit dem Fetisch-Clip Suckmyconfetizzle von Elektra Stoffregen, den ernst zu nehmen ein wenig schwer fällt. Andererseits: Warum sollte ein Konfetti-/Staubsauger-Fetisch ungewöhnlicher sein als jeder andere? Joel Moffetts Technical difficulties of intimacy schließlich verbirgt hinter der launig zugespitzten Inszenierung eine schlaue und anrührende Auseinandersetzung mit Geschlechteridentitäten und Rollenzuweisungen. Im Kurzfilmwettbewerb demonstriert Krefer die Nähe von Sex, Schmerz und Ästhetik mit seinem Action Painting No1/No2. Auch Mouth Piece von Lora Hristova bleibt abstrakt, indem er Stimulation und Penetration mit Fingern auf die Mundöffnung beschränkt. Morgana Muses berührt mit It’s my birthday and I’ll fly if I want to, einer Kurzdoku über ihr Geburtstagsgeschenk an sich selbst: Inszenierter Teil einer Rauminstallation mit Phoenix-Bondage zu werden. Sie überzeugt dabei vor allem mit Selbstbewusstsein, Unerschrockenheit und Konsequenz. Vor allem schräg ist das Kurzfilmprogramm Das Auge fickt mit – what the projectionist saw, in dem Moviemento-Personal Clips zeigt, die im Laufe von zehn Festival-Jahren im Hinterkopf geblieben sind. Faszination, Befremden und Ekel überlagern sich hier oft. Zum Beispiel in Ice Cream von Alisa Goddess, in dem klebrige Eismasse zum Fetisch wird. Zur Grenzerfahrung wird Jan Soldats Sandweg 80. Das Erbrechen großer Mengen Butter ist wohl für die meisten kaum noch als sexuell erregend nachzuvollziehen. Auch für den Protagonisten scheint es ein Zwang zu sein. Die Szene öffnet eine Tür zum Pathologischen. Spielerischer ist die Qual in Wings of love von Luc Notsnad – wenn auch nicht für die Eintagsfliege, der die Flügel ausgerissen werden, um sie über erogene Zonen krabbeln zu lassen. Animals definitely were harmed in this movie.

„Sexualität und Behinderung“

Der Schwerpunkt „Sexualität und Behinderung“ stellt die Frage nach Selbstbestimmung und freiem Willen besonders deutlich. Die spanische Dokumentation Yes, we fuck von Antonio Centeno und Raúl de la Morena erzählt zum Beispiel in sechs Episoden, wie Menschen mit körperlichen Einschränkungen ihre sexuellen Bedürfnisse entdecken und ausleben. Sie tut das so behutsam, warm und weise, dass ihre unverblümten Bilder kaum als das Tabu erscheinen, das sie ohnehin nicht sein sollten. Tatsächlich gelingt es ihr, ihre Protagonistinnen und Protagonisten auch nackt in größter Würde und alltäglicher Selbstverständlichkeit zu zeigen.

Deutlich kontroverser geht der Spielfilm Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern von Stina Werenfels, der auch schon auf der Berlinale gezeigt wurde, an sein Thema heran. Die 18jährige Dora ist geistig behindert und wird von ihren Eltern auf ihrem zaghaften Weg in ein möglichst eigenständiges Leben unterstützt. Zumindest bis durch das Absetzen ihrer Medikamente ihre Sexualität erwacht. Was absehbar, aber harmlos beginnt, kippt schnell in mutig erzählte Abgründe, als Dora eine Affäre mit einem Vergewaltiger beginnt und schließlich schwanger wird. Sie stößt mit ihrem freien Willen rasch an Tabus und moralische Dilematta anderer. Manchmal ist es sehr schwer auszuhalten, Menschen die man mag, beim Ausleben ihrer Freiheit zuzusehen. Der konsequent erzählte und hervorragend gespielte Film lässt sein Publikum aufgewühlt und ratlos zurück.

Abgründe

Abgründe hält das Festival auch in anderen Stoffen bereit. Der serbische Spielfilm Klip von Maja Milos zeigt schonungslos die Perspektivlosigkeit der jugendlichen Nachkriegsgeneration in einem Vorort Belgrads. Die Protagonistin hält ihren trostlosen Alltag zwischen Schulversagen, familiärer Desillusionierung und verzweifelten Versuchen, ihre Freizeit zu gestalten, mit ihrem Smartphone in kurzen Clips fest. Sie wird zur Dokumentarin ihres eigenen unvermeidlichen Scheiterns in und an der Gesellschaft. Neben Drogen und Aggressionen scheint Sex die einzige Möglichkeit, Aufmerksamkeit und Status zu erlangen. Die im unmittelbaren Umfeld verfügbare Sexualität steckt jedoch voller Ignoranz, Hunger und Verachtung. Sie ist eine Metapher, ein düsterer Spiegel. Der Krieg scheint seinen Kindern noch tief in der Seele zu stecken. Im Episodenfilm Like cattle towards glow, den der Autor und Performancekünstler Dennis Cooper in diesem Jahr gemeinsam mit dem Regisseur Zac Farley fertigstellte, ist das Körperliche stets Auslöser für bestimmte Emotionen, Mittel zum Zweck. Auch hier herrscht Kälte zwischen den Menschen, auch diese Welt ist dunkel und trostlos. Doch sie ist artifiziell, hoch ästhetisch, inszeniert. Und undurchdringlich. Ein Horrortrip ins Innere von Menschen, deren Leben nahe und nachvollziehbar erscheinen. Man ahnt: Solche Perspektiven würden auch bei der Betrachtung des eigenen Erlebens befremden.

Feelgood Movies

Es befreit, dass im Festival auch ein paar Filme gezeigt werden, in denen Lust und Leidenschaft zunächst einfach nur Spaß machen. Sogar deutsche. Auch wenn zum Beispiel der Festival-Eröffnungs-Film Schnick Schnack Schnuck von Maike Brochhaus komplexer und hinterfragender an sein Sujet herangeht als die schenkelklopfenden Lederhosen-Filme vergangener Jahrzehnte.

https://www.youtube.com/watch?v=RQEikzGrpPs

Die Regisseurin scheint dennoch fasziniert von der naiven Erzählhaltung jener Klamotten, in denen eine Spielhandlung meist nur dazu dient, möglichst schnell wieder zum Wesentlichen zu kommen. Ihr Gute-Laune-Spielfilm ist in Gestaltung und Tonfall durchaus eine Hommage an die scheinbare Unbeschwertheit vergangener Porno-Zeiten. Sie lässt ihre Protagonistinnen und Protagonisten die Lust an ihrer Lust (wieder)entdecken, baut aus ihnen Konstellationen, in denen trotz allen Fallenlassens viel erzählt wird: über Polyamorie und freie Liebe, über das Abbauen normativer Grenzen. Das wirkt bisweilen ein wenig didaktisch und rückt Schnick Schnack Schnuck in die nähe eines Aufklärungsfilms für Spießer. Zugleich macht es aber großen Spaß, den Laiendarstellern dabei zuzusehen, wie sie in den heißen Szenen authentische Leidenschaft ohne Regieanweisungen leben. In solchen Momenten erinnert der Film an den Post-Porn-Erstling der Regisseurin, das Experiment häppchenweise, bei dem sie in einem Big-Brother-Setting Fremden dabei zusieht, wie sie sich zaghaft und spielerisch näher kommen. Schnick Schnack Schnuck reicht die Extraportion Sex nach, die man damals vermisst haben mag. Lässt dafür aber eben keinen Raum für die persönlichen Geschichten der Performer. Ähnlich spielerisch geht auch Dokumentarfilmerin Justine Pluvinage an ihren Essay über Lust und Liebe heran. In Fucking in love ist sie jedoch ihre eigene Protagonistin, ein Focus für all die anderen Blickwinkel. Sie zeigt eine Reise nach New York, auf der sie sich von ihrer langjährigen Beziehung mit ihrem ersten Partner befreien will. Sie lässt sich auf unterschiedlichste Männer ein, begegnet ihnen radikal offen auf jeweils die Weise, die ihnen zu entsprechen scheint. Ein junger Mann verfällt ihr und wird verletzt, ein alterndes Model erzählt von seiner Einsamkeit. Dazwischen geschieht Unverbindliches und auch Belangloses: eine skizzenhafte Collage zwischenmenschlicher Bedürfnisse.

Unmittelbares Erleben

Die Filme des Festivals funktionieren dort am besten, wo sie Sexualität in einen Kontext rücken, wo sie zum nicht verschwiegenen Teil menschlicher Regungen, Sehnsüchte und Bedürfnisse wird. Und wo der Darstellung bloßer Körperlichkeit ein inszenierter, ästhetischer Blick hinzugefügt wird. Wo Film Mehrwerte entwickeln kann gegenüber einem unmittelbaren sinnlichen Erleben, auf zusätzlichen Ebenen erzählt, Lust und Leben vereint. Es ist dennoch ein wichtiges Element des Festivals, dass es auch Inszenierungen jenseits der Leinwände zeigt. Mehrere Performances erlauben im Begleitprogramm, unvermittelt zu schauen. Auch hier spielt natürlich Szenografie eine Rolle, Beleuchtung, Sound und das Spiel mit Übertragungen. Aber eben im Rahmen persönlicher Begegnungen, mit wie vielen anderen Menschen gemeinsam auch immer. Die Soundkünstlerin, Tänzerin und Performerin Bassano Bonelli Bassano präsentiert mit V____A* (under de-construction) den ersten Teil einer Reihe von Auseinandersetzungen mit dem weiblichen Geschlecht(steil). Sie hat sich vorgenommen, Erinnerungen und Betrachtungsweisen vieler Menschen zu sammeln und in Audioinstallationen zu verarbeiten. Zu Beginn erzählt sie jedoch ihre eigene erste Begegnung mit dem Bild einer Vagina, die nicht ihre eigene war. Während ich über einen Kopfhörer ihren daraus abgeleiteten Gedanken über Individualität und Festlegung, Körper und Identität lausche, sitze ich ihr alleine in einem kleinen Raum gegenüber. Der Text mischt sich mit kaum wahrnehmbaren atmosphärischen Hintergrundgeräuschen: einer Live-Übertragung aus ihrer eigenen Vagina. Sie hat sich vor meinen Augen ein Mikrophon eingeführt, zwischen ihren leicht gespreizten Beinen kann ich deutlich das Kabel sehen, das mein Hören mit ihrem Innersten verbindet. Die Situation ist vor allem deshalb intim, weil wir uns die meiste Zeit in die Augen sehen.

Tanz, Klangkunst und Installation

Auch Quimera Rosa arbeitet bei ihrer Performance Sexus 3 mit Klang. Auch sie dekonstruiert die Wahrnehmung des menschlichen Körpers und verschiebt den Fokus. In ihrer experimentellen Auseinandersetzung mit physikalisch-biologischen Schnittstellen macht sie unter anderem Hautwiderstände hörbar. Das beeindruckt am meisten, als sie ihrem Partner ein krudes, provisorisches Interface implantiert, indem sie ihm Nadeln durch die Haut des Oberarms sticht, an denen sie Drähte befestigt, die in einem Synthesizer enden. Die Apparatur erlaubt es ihr, mit ihren Händen auf dem anderen Körper zu spielen, wie auf einer Art Thereminvox. Dieser wird buchstäblich zum Instrument, Berührung zur hörbaren Komposition. Hätte ich nur den – zugegeben vielversprechenden – Ankündigungstext gelesen, die große Sinnlichkeit des Erlebens hätte sich mir nicht erschlossen: „With a nod to The piano teacher by Elfriede Jelinek, this performance revises the universe of Blade Runner in a post porn version: here, the replicants have left humanity for good… mixing scenes of cyberpunk surrealism with non-conventional sexual practices, the SEXUS 3 transform their bodies into sexo-sounding instruments through electronic prosthesis connected the flesh with BDSM techniques.“ Auch die schiere ästhetische Gewalt von Instant Intimacy – die Kraft der Restriktion der tantrischen Domina, Sexarbeiterin und Künstlerin Kristina Marlen ist mit den Worten Bondage, Performance und Installation nicht zu fassen. Sie fesselt im Laufe der Veranstaltung drei Menchen, zwei davon Freiwillige aus dem Publikum. Grundlage ist die japanische Bondagetradition Shibari. Doch die Performerin hat längst ihren eigenen Zugang zum Umgang mit den Seilen entwickelt. Mit traumwandlerischer Sicherheit und untrüglichem ästhetischem Instinkt macht sie die installativen Ergebnisse zur Nebensache und den Prozess, der zu ihnen hin führt, zum visuellen Erlebnis. Sie tanzt die Bondage geradezu, mit fließenden, nie beliebigen Bewegungen. Dabei wird in jedem Moment der Respekt vor dem anderen Menschen deutlich, die Gleichberechtigung der eingegangenen Verbindung – tatsächlich eine Instant Intimacy.

Begegnungen

Das Porn Film Festival verschmilzt nach vier Tagen zu einer Art individuellem Trailer aus Eindrücken und Erlebnissen, aus Lust, Körper und Emotion. Einige Menschen erzählen mir, dass diese fünf Tage im Jahr sie immer wieder aufs Neue öffnen. Für alternative Perspektiven auf Sexualität und Gesellschaft. Vor allem aber auf andere Menschen. Wer es schafft, sich einzulassen, dem kann es gelingen, anderen im temporären Festivalkollektiv näher zu sein als vielen Fremden sonst. Die Hoffnung wächst, dass Pornotopia nicht nur eine Insel ist, auf die wir uns zurückziehen, um eine gute Zeit zu erleben. Dass Jürgen Brüning zu Recht an die verändernde Kraft eines alternativen Umgangs mit der Darstellung von Sexualität glaubt, egal ob die Inhalte seines Festivals nun in die jeweiligen Definitionen von Porno passen oder sich eher in deren Peripherie ansiedeln. Einige Tage lang bin ich Teil einer latenten Euphorie. All die fremden Menschen, mit denen ich Blicke tausche oder ein Lächeln, mit denen ich Worte wechsle, sind mir aufrichtig nahe. Bei einigen habe ich das Gefühl, dass die entdeckten Gemeinsamkeiten auch weiter tragen könnten, dass man gemeinsam die empfundene Revolution aufrecht erhalten könnte. Ich stelle fest, dass die wunderbare Frau, mit der ich mich im Darkroom des Ficken 3000 über gemeinsame Vorlieben austausche, nicht nur schlau und charmant ist. Vielmehr haben wir fünf gemeinsame facebook-Freunde. Nicht irgendwelche, sondern Menschen, die ich sehr schätze. Zwei davon sind mir wirklich nah, mit einem habe ich sehr viel Zeit verbracht. Mit einer anderen Frau, die mich beim Warten auf meinen letzten Film anspricht, beginne ich ein tiefes, offenes, intimes Gespräch, das uns beide begeistert. Wir gehen eine Weile spazieren, schließlich bringt sie mich mit der Bahn zum Busbahnhof. Wir sind uns sicher, dass wir uns wiedersehen wollen und küssen uns lange, bevor ich Berlin verlasse. Ich beende mein Porn Film Festival mit Zärtlichkeit und Romantik und weiß, das ist kein Widerspruch.

Nebel

Trotz oder vielleicht wegen einer kaum zu verarbeitenden Überfülle von Eindrücken wird schon auf der Rückfahrt alles ein wenig unwirklicher. Die Frau, die ich gerade noch küsste, mit der ich baldigst unser Gespräch über Polyamorie, Freundschaft und Lust persönlich fortsetzen wollte, wird mir am folgenden Tag eine SMS schreiben: „Talk to a stranger, meet a soulmate… someday, somehow, somewhere again…“ Als ich zurück schaue, ist Brigadoon schon fast wieder im Nebel versunken. Riff Raff gibt letzte Anweisungen für den transit beam und Frank singt: „I’m going home…“

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