Propaganda und Pädagogik: Von Spielen, die keine Spielzeuge sind

Immer öfter werden Videospiele zu Bildungszwecken oder als Propagandawerkzeuge eingesetzt. Aber sind sie wirklich effektiv? Eine Spurensuche.

Die US-amerikanische Armee führt einen endlosen Krieg in Czervenien, für den sie andauernd neues Menschenmaterial benötigt. Der totalitäre Staat Arstozka verschärft quasi täglich seine Einwanderungsgesetze. In Arcadia Bay, einem kleinen Ort im US-Bundestaat Oregon, manipuliert eine 18-jährige Fotografiestudentin die Zeit. In China werden Smartphones unter unmenschlichen Bedingungen hergestellt. Der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg allerdings ist auf jeden Fall gerechtfertigt, aus chinesischer Sicht zumindest, und die Japaner*innen kommen nicht zu Wort. In den leeren Straßen Pjöngjangs halten sich immer alle an die Verkehrsregeln, und in Bayern geht es schnell in Richtung Familie, Bildung und Fortschritt. In einer namenlosen, zerbombten Stadt kämpfen Zivilist*innen ums Überleben.
Szenarien aus Videospielen? Sicherlich. Dennoch werden sie erlebt. Und haben damit eine Wirkung, die auch außerhalb des Bildschirms spürbar ist.

America’s Army – Spielen mit den good guys

Willkommen in Czervenien. Das politisch instabile, von nationalistischen Kräften regierte Land liegt in der osteuropäischen Region Odporzhien, zwischen Nordazhien, Bojatzhien und dem Belischen Meer. Czervenien und eine benachbarte Inselnation, die Demokratische Republik Ostregal, sind die Spielwiesen, in die America’s Army seine Spieler*innen schickt. Das Spiel wurde 2002 vom US-Militär als Rekrutierungswerkzeug kostenlos veröffentlicht, da nach dem Kalten Krieg und dem Ersten Golfkrieg Rekrutierungsbüros abgebaut worden waren. „Es gab nicht viele greifbare Erfahrungen oder Informationen aus erster Hand in der populären Kultur, in der die Kids lebten“, erzählt Colonel Casey Wardynski in einem Interview für den Sammelband Joystick Soldiers. Wardynski hat America’s Army schon 1999 erdacht und das Projekt maßgeblich vorangetrieben. Zur Rekrutierung geht die Army dahin, wo sie die Jugendlichen vermutet: in das Genre der Online-Multiplayer-Spiele. Die Army vergibt die Aufträge für die Entwicklung an private Spielestudios und pumpt zwischen 2002 und 2008 ein Budget von 33 Millionen US-Dollar in das Spiel und seine drei Sequels. Zum Vergleich: Das teuerste Spiel im Jahr 2009 ist Call of Duty 4: Modern Warfare mit 50 Millionen US-Dollar an Entwicklungskosten.

America’s Army hat viele eigenartige Spielmechaniken. Das System, beispielsweise, belohnt, wenn Spieler*innen Teamkamerad*innen heilen, und bestraft, wenn sie auf Teamkamerad*innen schießen (neben einem Ausflug in ein Militärgefängnis, bei dem man der Spielfigur dabei zuschauen kann, wie sie darauf wartet, wieder rausgelassen zu werden). Oder, ein anderes Kuriosum, in America’s Army spielen zwar Teams online gegeneinander – aber beide Teams repräsentieren die amerikanische Armee. Das Spiel stellt jeweils das eigene Team als diese dar – und das feindliche Team als „die anderen“. Für beide Seiten. Schließlich sollen alle als die „good guys“ spielen. „Wenn wir den Kindern anbieten würden, die ‚bad guys‘ zu spielen, wären sie nicht an die Regeln und Werte der Army gebunden, es gäbe Chaos wie in einem Unterhaltungsspiel, und der Sinn unseres Spiels ginge verloren“, sagt Wardynski.

Zu ungenau, zu sehr Spiel, zu wenig Simulation: America’s Army ist nicht als Unterhaltungsspiel gedacht, aber auch nicht unbedingt als Trainingsspiel. Wardynski begreift es als eine Art Lernspiel: „Es ist ein virtueller Ort, ein Klassenzimmer. […] Wir haben es entwickelt, damit die Kids es erkunden können und generelle Informationen darüber bekommen, wie es ist, ein Soldat zu sein, aber nicht spezifisch darüber, was ein Soldat tun würde.“

This War of Mine – Elend, Traurigkeit und nichts zu essen

This War of Mine verhält sich zu America’s Army wie ein Spiegelbild. Auch, weil der US-amerikanische Soldat John Keyser dem Entwicklerstudio beratend zu Seite stand. In das Spiel flossen die Erfahrungen, die er nach einer der verlustreichsten Schlachten des Zweiten Golfkrieges machte, der zweiten Schlacht um Fallujah. Keysers Einheit sollte damals den in der zerstörten Stadt seit längerer Zeit eingesperrten Zivilist*innen helfen. This War of Mine ist dementsprechend eine Wirtschafts- und Überlebenssimulation, in der Zivilist*innen versuchen, in einer zerbombten Stadt irgendwie zurecht zu kommen. Materialien müssen gefunden werden, Betten gebaut, Öfen geheizt, noch mehr Materialien gefunden, gestohlen und getauscht werden, Destillen, Herde und Waffen repariert und entworfen, Tote beklagt, Freunde geopfert werden. Es gibt keine Held*innen. Wer das Spiel durchgespielt hat, hat den Krieg überlebt – aber auch nicht mehr als das. Es ist effektiv und deprimierend. „Die Erinnerung kommt automatisch“, sagt Keyser, der auch wegen posttraumatischer Belastungsstörung in Behandlung war. „Ich spielte eine frühe Version und machte mir nebenbei Notizen, und es gab einen Punkt, an dem ich mir sagen musste, okay, das hier kann ich für ein paar Tage nicht mehr machen.“ Das Spiel wurde von einem polnischen Studio entwickelt und erschien 2014, ungefähr zur Zeit der Krimkrise. „Man glaubt nicht, dass die eigene Welt sich ändern kann. Wenn man über den Zweiten Weltkrieg liest, merkt man, das haben sie damals auch geglaubt: Es wird keinen Krieg geben. Er kam trotzdem“, sagte einer der Entwickler, Michael Drozdowski. 2015 gewann This War of Mine den Deutschen Computerspielpreis als bestes internationales Spiel – verliehen von der Stiftung Digitale Spielkultur, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Seitdem wird es von der – vom Bundesministerium für Verkehr und Digitale Infrastruktur geförderten – Plattform Digitale Spielewelten in verschiedenen Kontexten als Lehrmittel empfohlen.

Zwei Seiten einer Medaille

Im Prinzip hat man mit America’s Army und This War of Mine zwei Seiten von etwas, was man vielleicht „Verzweckmäßigung von Spielen“ nennen könnte. Die eine ließe sich grob in ein Begriffspaar wie „Werbung/politische Propaganda“ packen, die andere in „Bildung“. Es ist keine neue Idee, Kinder und Jugendliche an den Bildschirmen zu erreichen, an denen sie ihre Freizeit verbringen. 1994 veröffentlicht das Bundesministerium des Innern das Point-and-Click-Adventure Dunkle Schatten, in dem der Protagonist Karsten Wegener gegen nationalsozialistische Widerstände ein Jugendzentrum aufbauen muss. 1993 erscheint das 7 Up-Werbespiel Cool Spot für den Sega Mega Drive, ein Jump ‘n’ Run, in man – in der US-Version des Spiels – mit dem damaligen US-Maskottchen der Limomarke 7 Up-Dosen einsammeln musste. Doch Anfang des Jahrtausends explodiert die Indie-Szene, Faktoren wie einfache Verteilmöglichkeiten über das Internet, einfachere Herstellung und Crowdfunding-basierte Finanzierungsmöglichkeiten haben dazu entscheidend beigetragen. Es gibt immer mehr Spiele, die sich mit einer Message platzieren wollen und dabei irgendwo zwischen Bewegungen und Ideen wie Gamification, Playing Arts und Serious Games landen. Teilweise sind sie hochgelobt und klug gemacht: das dystopische Papers, Please, in dem es um kafkaeske Einwanderungsregularien geht; Life is Strange, das sich mit Verantwortlichkeit und Selbstbestimmung beschäftigt; das Smartphone-Spiel Phone Story, das Herstellungsbedingungen von Smartphones thematisiert. Neben solchen hochwertigen Spielen unabhängiger Entwickler*innen gibt es dann selbstverständlich noch umstrittenere Beispiele wie das (mittlerweile im App Store nicht mehr erhältliche) Android-Spiel Bomb Gaza oder Under Ash und die Fortsetzung Under Siege; Spiele, in dem die erste und zweite Intifada aus Sicht eines jungen Palästinensers gespielt werden, der sich gegen die israelische Besatzung wehrt – das Spiegeluniversum zu Call of Duty-Missionen im Nahen Osten, wenn man so will.

Zeitgleich zu dieser Explosion der Indie-Games steht die erste Generation von Gamer*innen, für die es immer Videospiele gab, nun mitten im Berufsleben. Sei es in Schulen und Bibliotheken, in der Politik oder an anderen Schaltstellen – die Hemmschwelle, Spiele im pädagogischen oder politischen Kontext einzusetzen, ist deutlich geringer. Das zeigen auch Ideen wie komplett fertig konzipierte Physik-Lehreinheiten auf Basis des 3D-Puzzle-Spiels Portal oder Unterrichtseinheiten auf Basis von Minecraft. Gleichzeitig werden aber zunehmend auch Spiele von offizieller Seite für politische Zwecke genutzt – sei es im Sinne von Aufklärung oder Propaganda, sei es gelungen oder misslungen. Siehe America’s Army, aber auch Fake It To Make It, ein Spiel über sogenannte Fake News, das von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung zwar nicht entwickelt, aber übersetzt wurde. Von Zeit zu Zeit münden solche Spiele von offizieller Seite auch in eigenartige Skurrilitäten, die einem mehr über die Macher*innen als über ihr Thema erzählen: das misslungene Aufbruch Bayern der bayerischen Staatskanzlei, das laut unbestätigten Berichten 100.000 Euro gekostet haben soll; das vom FBI entwickelte Slippery Slope, das Extremismus anhand von Ziegen erklären will; das nordkoreanische Rennspiel Pyongyang Racer, in dem es darum geht, auf den leeren Straßen der nordkoreanischen Hauptstadt Verkehrsregeln einzuhalten; oder das nach wie vor mysteriöse Anti-Japan War Online, ein Spiel, das vom Kommunistischen Jugendverband Chinas in Auftrag gegeben wurde, um Chinas Rolle im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg zu glorifizieren.

Magisches Denken

In der Debatte über den Einsatz von Videospielen zu Propaganda- und Bildungszwecken ist es oft nicht leicht, zwischen Magischem Denken – also einem Denken, das mit mehr oder weniger eingebildeten Kausalitäten arbeitet – und mit Fakten angereichertem Denken zu unterscheiden. Vieles erinnert an die vereinfachenden Argumente, mit denen die immer wieder aufploppende „Killerspiel-Debatte“ geführt wird. Aber einfache Gleichungen wie „gewalttätiges Spiel macht gewalttätig, Bildungsspiel bildet, Propagandaspiel zementiert politische Agenda“ sind zu kurz gedacht. Beispielsweise kann niemand genau sagen, ob gewalttätige Videospiele tatsächlich langfristig gewalttätigeres Verhalten hervorrufen, obwohl der Zusammenhang schon seit Jahren versucht wird zu erforschen. Sicher sagen lässt sich allein, dass Menschen nach dem Spielen eines gewalttätigen Spiels kurzzeitig ihren Mitmenschen gegenüber etwas unhöflicher sind. Alles andere ist nicht beleg- und beweisbar, zu viele soziale Faktoren müssen einbezogen, zu viele Zahlen können auf unterschiedliche Weise interpretiert werden. Beispielsweise gibt es – nach einer US-amerikanischen Studie – eine Korrelation zwischen den Verkaufszahlen von gewalthaltigen Spielen und Gewaltverbrechen, nämlich insofern, als dass die Verbrechensrate bei hohen Verkaufszahlen in Gebieten, in denen viele jüngere Leute – potentielle Spieler also – tendenziell sinkt. Heißt das, dass die ganzen potentiellen Gewaltverbrecher zuhause sitzen und spielen? Heißt das, dass solche Spiele kathartisch wirken? Oder heißt es gar nichts? Das kann niemand genau sagen.

Selbstverständlich können Spiele – wie jedes andere Medium auch – Inhalte vermitteln. Das gelingt eher, je größer der Spaß oder die Möglichkeit sind, in die jeweilige Welt einzutauchen. Ulrich Tausend, Experte für digitales Lernen am Medienzentrum München, sagte 2015 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sogar: „Ein gutes Spiel kann dem Spieler seine Regeln oder andere Spielinhalte beibringen, ohne dass er überhaupt merkt, dass er gerade etwas lernt.“ Es wäre allerdings weit hergeholt, nur, weil Videospiele immersiver sind als das Auswendiglernen von Jahreszahlen und mehr Spaß machen, auch darauf zu schließen, dass sie sämtliches kritisches Denken umgehen und ihre Inhalte direkt und unreflektiert im Hirn abladen.

Von daher ist für alle, die sich mit Spielen beschäftigen, der seit Jahren andauernde Trend, Lern-, Bildungs- und Propagandaspiele herzustellen und in verschiedenen Kontexten einzusetzen, zunächst einmal ein sehr interessanter. Denn er bedeutet für viele hervorragende Spiele unabhängiger Entwickler*innen mit gesellschaftspolitischem Anspruch einen Schritt hinaus über den alten Vorwurf, Videospiele seien zu nichts als Unterhaltung gut.

Es ist auf der anderen Seite aber auch ein sehr offensichtlicher, überfälliger Trend, der Ideen aufnimmt, die für andere Medien immer galten. Der dabei auch viele alte Fehlannahmen wieder und wieder hoch schwemmt – das Magische Denken über Videospiele, die falschen Kausalitäten. America’s Army ist im Kern ein Lernspiel, immersiver und spannender vielleicht als in der Innenstadt verteilte Flyer, aber nicht anders. This War Of Mine ist ein Essay darüber, wie es ist, als Zivilist*in in einem Kriegsgebiet zu leben; immersiver und spannender vielleicht, aber nicht anders. Under Ash oder Pyongyang Racer oder Anti-Japan War Online ist einseitige Geschichtsschreibung aus der Sichtweise einer bestimmten Gruppe; immersiver und spannender vielleicht, aber nicht anders.

In den Debatten drumherum tauchen Argumente auf, wie sie für neuere Medien seit Jahrhunderten verwendet werden – beispielsweise bei der Diskussion zur sogenannten „Lesesucht“ im ausgehenden 18. Jahrhundert. „Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass die Romane wohl eben so viel im Geheimen Menschen und Familien unglücklich gemacht haben, als es die so schreckbare französische Revolution öffentlich thut“, schreibt der Publizist Johann Georg Heinzmann 1795. Andere Argumente sind im Kern nichts als vorsichtige Tastbewegungen, Ideen zu Wirkungsweisen, die argumentativ oder praktisch ausprobiert werden, nur um mal zu sehen, wie sie sich zu Videospielen verhalten. Aber eben nur einem zu Verfügung stehenden unter vielen. Oder, um es mit einem fantastischen Satz von Richard Cobett aus – ausgerechnet – der PC Gamer  zu sagen: „Literatur hatte einen guten Lauf, viel davon sogar ohne schicke Grafik und Animationen und Partikeleffekte, um den Worten nachzuhelfen.“

Dieser Artikel erschien zuerst im ROM-Magazin.

Bildquellen

  • Under Ash: Screenshot Under Ash