Interviewreihe „Davon leben“ – Interview mit Amira Bakhit (Theatermacherin)

Unsere Interviewreihe „Davon leben“. Heute: Die Theatermacherin Amira Bakhit über Improtheater, Mäuseroulette und künstlerische Durststrecken.

Wann bist du wo geboren?

Am 18. Juli 1983 in Friedberg in Hessen.

Schön da! Aus der Gegend kommt die Hälfte meiner Familie. Genauer gesagt aus Bad Vilbel. Bist du dort auch aufgewachsen und zur Schule gegangen?

Ich wuchs in Karben auf, in Friedberg wurde ich tatsächlich nur geboren, dort war die nächste Klinik. Gewohnt habe ich aber dann sofort in Karben.

Und da warst du bis zum Abitur?

Genau. Ich habe dann noch ein Freiwilliges Soziales Jahr im Jugendkulturzentrum gemacht, erst danach ging es hinaus in die Welt.

Wohin in die Welt?

Nachdem ich einige Versuche gestartet hatte, mich an der Frankfurter FH für Soziale Arbeit einzuschreiben, was wegen miesen Abiturs nicht klappte, und zudem eine Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule versemmelt hatte, weil ich am Abend zuvor zuviel Party gemacht hatte und generell nicht gut vorbereitet war, war ich ziemlich am Suchen. Der Druck von zu Hause wurde immer größer. Also begann ich Gelegenheitsjobs anzunehmen. Als Aushilfe in der Kita oder im Eiscafé. Glücklich war ich damit nicht unbedingt. Zudem war ich ziemlich abenteuerhungrig. Zu der Zeit hatte ich eine große Affinität zur Mittelalterszene. Als mich dann ein Typ ansprach, ob ich nicht für ihn ein Mäuseroulette zum Esslinger Weihnachtsmarkt betreiben wolle, sagte ich sofort zu.

Ich habe zwar selbst mal auf einem Mittelalterfestival gearbeitet, kenne Mäuseroulette also vom Sehen, aber kannst du kurz erklären, was das ist?

Das Mäuseroulette ist ein Walking-Act. Man zieht einen bunten Karren über den Markt. Auf dem ist eine Plattform mit einer kleinen Stadt montiert. Man ruft sich Menschen heran und überredet sie, einen Euro auf ein Häuschen zu setzen. Zu guter Letzt kommt die Maus heraus. Gewonnen hat der, dessen Häuschen sie aussucht.

Eine echte Maus?

Ha, die Klassikerfrage! Ja, genau. Natürlich nicht nur eine, sondern viele. Ich habe damals extra eine Sachkundeprüfung beim Veterinäramt abgelegt. Da geht es vor allem um die artgerechte Haltung, richtiges Füttern, Schlafrhythmus und so weiter. Das Mäuseroulette hat für mich sehr viel verändert. Ich blieb nicht nur für den Weihnachtsmarkt, sondern für etwa zwei Jahre bei dem damaligen Auftraggeber. Er hatte ganz viele verschiedene Spiele und versammelte eine Menge Gestalten um sich: Junge, suchende Menschen wie mich, aber auch Gesellschaftsaussteiger und gescheiterte Existenzen. Ein ziemlich bunter Haufen, der mehr oder weniger legal für ihn arbeitete. Die wohnten fast alle zusammen auf seinem Hof. Ich bin dadurch sehr viel herumgekommen. In ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das waren ziemlich prekäre Verhältnisse. Wir schliefen in überfüllten Wohnwägen, in Fußgängerzonen, am Strand. Eine wilde Zeit. Und sehr abenteuerlich. Nach zwei Jahren hatte ich genug von dem Haufen. Ich baute mein eigenes Roulette und zog damit vier Jahre auf eigene Faust weiter. Zu der Zeit hatte ich weder Wohnsitz noch Krankenversicherung. Aber auch eine unglaubliche Freiheit. Und ich lernte, mich selbst zu organisieren. Ich machte meine Akquise selber und hatte einen großen Kundenstamm.

Wann entwickelte sich deine Begeisterung für Schauspiel?

Mit dem Theater begann ich mit 11 oder 12 Jahren. Es gab eine Kindertheater-AG im genannten Jugendkulturzentrum unter der Leitung eines recht alternativen Theaterpädagogen. Er entwickelte mit uns eigene Stücke, auf der Basis von Improvisationstheater. Das hat mich ziemlich geprägt. Ich spielte von meiner Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter weiter in dieser AG. Sie ist quasi mitgewachsen. Dazu kamen dann Statistenjobs an der Dramatischen Bühne neben dem Exzess, dieser linken Kneipe auf der Leipziger Straße in Frankfurt am Main. Als ich dann aber mit dem Mäuseroulette begann, hat das alles aufgehört.

Was passierte nach den vier Jahren Mäuseroulette?

Als ich aufhörte war ich 25. Ich hatte definitiv keine Lust mehr auf das Rumfahr-Leben und settlete in Gelsenkirchen. Ich war auf der Suche nach etwas Solidem. Also machte ich eine Ausbildung bei einer Biosupermarktkette. Eigentlich wollte ich Veranstaltungskauffrau werden. Aber ich bekam keine gute Resonanz auf meine Bewerbungen. Der Biosupermarkt bot als einziger ein Bewerbungsgespräch an. Und schwupps war ich drin. Das war nach all der Freiheit und Selbstbestimmung ein komplett anderes Leben. Ich war es gewohnt, etwas darzustellen. Dort im Laden war ich auf einmal die Azubine: „Amira, schichte die Bananen richtig! Amira, lauf ins Kühlhaus und hol frischeren Broccoli!“ Obwohl die Ausbildung sehr erfolgreich verlief, eckte ich überall an. Keiner hatte so viele Mitarbeitergespräche wie ich, und schlussendlich gab es auch noch eine Abmahnung. Trotzdem war es eine wichtige Zeit für mich. Ich lernte sehr viel über ökologische Landwirtschaft, interessierte mich klimapolitisch, wurde Vegetarierin und so weiter. Nur Zeit für die Kunst blieb keine. Und das fraß mich auf.

Was hast du gegen das Auffressen unternommen?

Im letzten Ausbildungsjahr holte mich glücklicherweise das Mittelalter wieder ein. Ein befreundeter Gaukler suchte Musiker, Jongleure und eine Tänzerin, um ein neues Projekt aufzubauen. Also bewarb ich mich als Tänzerin. Ich fuhr nach Recklinghausen ins Naturfreundehaus und tanzte ihm zwischen Jugendherbergsbetten und -tischen etwas vor. Er meinte zwar, es wäre noch einiges zu tun, aber ich hatte den Job. In dieser Zeit baute ich meine Tanzshows aus und wagte mich auch an das Performen mit Feuer heran. Nach ein bis zwei Jahren war ich zwar auch noch mit dem Gaukler und dessen Truppe unterwegs, aber nutzte auch meine Kontakte aus der Zeit des Mäuseroulette. Es entstanden einige Engagements, zu denen ich Künstler einlud, um mit mir zu spielen. Vornehmlich tanzte ich. Aber ich merkte auch, dass ich das Theater und das Sprechen auf der Bühne sehr vermisste. Trotzdem nahm ich in dieser Zeit jede Anfrage an, um mich künstlerisch weiterentwickeln zu können. Es geschah häufig, dass mich Leute fragten: „Kennst du wen, der dieses oder jenes kann?“ Da sagte ich fast immer: „Ja, mich!“ Und dann schaffte ich mir das bis zu dem Termin drauf. Nach der Ausbildung verließ ich das Ruhrgebiet, lebte eine kurze Weile im Sauerland und zog letzten Endes nach Marburg, wo ich zwischen 2005 und 2006 schon mal gewohnt hatte. Ich hatte im Ruhrgebiet schon immer den Kontakt zu Improvisationstheatergruppen gesucht. Die waren aber entweder dicht oder es war kein Geld damit zu verdienen. Kurz bevor ich ins Sauerland zog, bewarb ich mich bei einer Agentur im Rheinland, die improvisierte Stadtrundgänge in Köln anbot. „60 Minuten laufend lachen“ stand im Flyer. Eine hohe Anforderung zwar, aber es hat immer gut funktioniert. Wir – das heißt mehrere SchauspielerInnen und ImprodarstellerInnen – zogen mit den Leuten durch die Kölner Innenstadt und dachten uns spontan zu verschiedensten Gebäuden, Gegenständen und PassantInnen hochtrabende Geschichten aus. Zwischendurch improvisierten wir Szenen dazu. Leider wurde das Projekt wieder eingestellt. Aber ich konnte dadurch meine moderatorischen Fähigkeiten schulen. Es lief natürlich nicht immer gut. Der worst case war, als eine Musicaldarstellerin und ich für einen Stadtrundgang gebucht wurden, der als Abschiedsgeschenk einer Firma für ihre frisch entlassenen MitarbeiterInnen fungierte. Abends sollten wir noch eine eine kleine Show geben. Verständlicherweise wollte keine rechte Stimmung aufkommen, ein kleines Lächeln konnten wir ihnen aber schon entlocken. Aber ich sehe mich seitdem eher als Dienstleisterin: Ich will die Menschen unterhalten, zum Lachen oder zum Staunen bringen. Es geht nicht nur darum, dass mir die Kunst Spaß macht, sie soll auch den ZuschauerInnen Spaß machen.

Wie ging es in Marburg dann weiter?

In Marburg fand ich ziemlich schnell das Fast Forward Theatre: Eine Improgruppe, die Kongresse begleitet, aber auch auf Feierlichkeiten klassisches Impro spielt und eigene Veranstaltungen anbietet. Sie hatten seit einigen Jahren nicht mehr gecastet, aber ich hatte Glück. Relativ schnell kamen die ersten Anfragen und ich spielte in Marburger Akademikergärten, in rustikalen Wirtschaften und kleinen stinkenden Kneipen Improtheater. Nach einem Jahr etwa kam die Kongressbegleitung dazu. In dieser Zeit bekam ich auch die Anfrage für einen theaterpädagogischen Feuerworkshop. Ich sagte zu, hatte aber noch keine Ahnung, was ich mit den Jugendlichen anstellen wollte. Also schrieb ich ein vages Konzept, das Anklang fand. Und das mich selber auf eine Spur brachte. Dieser folgend kreierte ich einen Workshop, der ziemlich gut funktionierte. Ich habe aber echt geschwitzt. Mittlerweile hat er sich gut etabliert und wird regelmäßig gebucht. Ich traf für mich die Entscheidung, die Mittelalterszene zu verlassen und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Mit Blick auf das ganze Gerümpel, das ich über die Jahre angeschafft, selbst gebaut und genäht hatte, wollte ich mich reduzieren. Der Gedanke, nur mich selbst zu benötigen und mit mir alles dabei zu haben, was ich brauche, schien richtig. In Marburg habe ich einfach viele Chancen bekommen.

Und heute?

Mache ich immer noch Impro, Feuerschows, gebe Theaterworkshops und moderiere. Und seit zwei Jahren spiele ich Kindertheater an Grundschulen und lerne wieder jede Menge. Trotzdem möchte ich am Jahresende wieder in den Pott, um dort die Ausbildung zur Theaterpädagogin zu machen. Rein vom Bauchgefühl her erscheint mir das als konsequenter und richtiger Schritt. Auf mein bisheriges Leben zurückblickend kann ich feststellen, dass mich jede Vernunftentscheidung nur Zeit gekostet hat. Jede Entscheidung aus dem Bauch heraus brachte mich meinem Ziel näher.

Du hast so viele Veränderungen schon gemacht, aber – mit Blick auf die Ausbildung – immer noch Lust auf Neues. Suchst du das Neue oder haben sich die meisten Sachen einfach ergeben? Bauchgefühlmäßig eben?

Ganz viel hat sich ergeben, weil ich Lust auf eine Richtung hatte und ich zu vielem „ja“ sagte. Nur lernte ich, dass ich auf mein Bauchgefühl hören muss. Die Mittelalterszene wurde mir irgendwann zu stressig. Ich bin schließlich mit Magenschmerzen zu den Jobs gefahren, weil ich dachte, ich müsse mich konsequent weiter etablieren in diesem Sektor. Also habe ich mich nur noch auf die Bereiche konzentriert, die mir ein gutes Gefühl vermittelt haben. Die Ausbildung ist ja nichts Neues. Sie bringt mir Wissen und Souveränität in einem Bereich, den ich a) sehr liebe und b) in dem ich bereits arbeite.

Da du gerade von der Mittelalterszene sprachst: Die ist ja eine mindestens männerdominierte, ich würde sogar sagen in Teilen sexistische Welt. Ich unterstelle, dass du entsprechende Erfahrungen gemacht hast.

Klar, wir haben es mit einer Szene zu tun, in der aus eskapistischen Gründen altmodische Rollenbilder verkörpert werden. Jedoch sind die Menschen ja Kinder unserer Zeit und interpretieren nach einem modernen, mediengeprägten Bild. Klar dass Flirts oder alkoholgeschwängertes Hinterhergerufe dazugehören. Mit der richtigen Klamotte und einem Trinkhorn gehen da ganz andere Sachen.

Aber?

Aber häufig vergeben Kerle die Jobs, und immer wieder wurde nicht differenziert zwischen der Marktfigur Amira, also der sexy, flirty Tänzerin, und der normalen Amira, die für ihren Unterhalt kämpft. Einer der Gründe, warum ich jetzt andere meine Jobs verhandeln lasse oder in der Selbstakquise nur noch pädagogische Projekte mache. Leider gibt es auch immer wieder Situationen, in denen Veranstalter ihre Machtposition ausnutzen und in bester mittelalterlicher Manier Frauen gegenüber übergriffig werden. Solche Situationen werden dann häufig von den Betroffenen nicht weiter kommuniziert, weil es um Jobs geht. Meistens wird die Sache runtergespielt. Ich persönlich habe häufig was dazu gesagt. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ein Jobgeber uns in den Wohnwagen bestellt hat, um die Gagen auszuzahlen. Eine recht junge – will heißen: unerfahrene – Frau sollte ihr Geld erst dann bekommen, nachdem sie ihm einen Kuss auf die Wange gab. Da bin ich dann dazwischen. Leider war ich nicht immer so konsequent. Als mir mal ein Veranstalter sagte, ich könne ruhig auch bauchfrei auftreten und das am nächsten Tag wiederholte, habe ich ihn nicht zurechtgewiesen. Zwar habe ich das Outfit nicht geändert, habe mich jedoch sehr diplomatisch gegeben.

Haben diese Erfahrungen eine Rolle bei deinem Rückzug aus der Mittelalterwelt gespielt?

Definitiv. Aber, vor allem der Wunsch nach künstlerischer Weiterentwicklung zog mich weg.

Du hast von schweren und prekären Zeiten gesprochen, hattest Phasen, in denen das Fehlen der Kunst dich auffraß. Gibt es heute noch ähnliche Momente? Zeiten, zu denen alles schwer ist und du nicht mehr weiter weißt?

Ja, total. Letztes Jahr gab es eine längere Durststrecke. Da fühlte ich mich nicht gebraucht, kam mir hässlich vor und unkreativ. So etwas nimmt mich emotional dann sehr mit. Wie du ja auch weißt hat man als Selbstständiger in solchen Phasen keinen Urlaub. Eher überlegt man fieberhaft, wie man aus so einem Loch wieder herauskommt. Wenn ich Marburg verlasse, werde ich mir neue Projekte suchen müssen. Das verunsichert mich natürlich. Dafür ist die Ausbildung meine Perspektive. Ich erhoffe mir dadurch viele Kontakte. Ein gutes Netzwerk hilft viel weiter. Und die Abenteuerlust natürlich. Und im Ernst: Wie sehr kann man in Deutschland scheitern? Worst case sind vielleicht ein paar Monate ALG2. Und es geht immer weiter.

Ich rede nicht vom wirtschaftlichen Scheitern, ich meine das Gefühl, sich unwohl zu fühlen, weil der Erfolg auf sich warten lässt.

Letzten Endes ist es eine Vertrauensfrage, die wir uns selber stellen müssen: „Glaube ich an mich und meine Fähigkeiten? Oder, hatte ich einfach nur sehr viel Glück?“

Ich würde nicht sagen, dass es etwas mit Vertrauen zu tun hat. Egal wie gut du bist, du kannst trotzdem keine Jobs oder Aufträge kriegen. Oder glaubst du an Schicksal oder Gott? Hast du eine Art Vertrauen darauf, dass es schon irgendwie wird?

Das Leben eines Selbstständigen erfährt ups and downs, das ist nun mal so. Es gibt einen roten Faden im Leben, einen Wunsch, sich auszudrücken, und Leidenschaft für das zu empfinden, was man tut. Es gibt Menschen in meinem Umfeld, die ähnliches machen wie ich. Wenn die mehr Jobs haben, schaue ich, was sie anders machen. Vielleicht lerne ich von ihnen. Aber Trübsal blasen hilft nicht weiter. Und nein, ich glaube nicht, dass alles schon vorher bestimmt ist. Aber ich glaube irgendwann – nach stundenlangen aufrichtenden Gesprächen mit den Lieben – wieder an mich.

Was tust du abgesehen von solchen Gesprächen, wenn du emotional so ausgelaugt bist wie letztes Jahr, weil du dich nicht gebraucht, hässlich und unkreativ fühlst?

Davon kann ich gar nicht absehen, weil menschliche Stützen einfach so wichtig sind. Mein Freund ist Gold wert, meine Oma hat mich aufgebaut mit ihrem niemals endenden Optimismus, und ich habe eine sehr gute Freundin, die mir den Kopf wäscht, aber mich auch trägt. Und ansonsten warte ich ab, mache Gelegenheitsjobs und netzwerke. Und wenn ich morgen aufhöre, weil ich glaube, ich kann davon nicht leben, könnte ich in meinen Ausbildungsberuf zurückgehen, zum Beispiel in einen netten Bioladen. Im Ernst: Wenn ich denke, dass mich das erfüllt, dann werde ich das tun. Ich bin nicht auf der Welt, weil ich mich vor irgendwem als Künstlerin beweisen muss. Ich bin hier, um glücklich zu sein. Und nach vielem Probieren weiß ich, dass ich die kreative Arbeit liebe. Also gehe ich voran.

Voran, egal auf welchem Weg?

Nicht egal. Auf dem, der mich glücklich macht. Auf dem, der mich erfüllt.

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  • IMG_20170720_145215: Foto: Anna Scheidemann