Interviewreihe „Davon leben“ – Interview mit Sven Pingel (Tätowierer)

Heute in der Interviewreihe „Davon leben“: Der Tätowierer Sven Pingel über Kunst, Bauchschmerzen und alternative Lebenswege.

Kunst machen – klar. Aber davon leben? Für Davon leben trifft Martin Spieß sich mit Künstlerinnen und Künstlern an der Peripherie des ganz großen Erfolgs. Dort, wo es wenig Geld, aber viel Leidenschaft gibt. Heute im Gespräch: Sven Pingel, 25, ein deutscher Tätowierer. Er lebt im Wendland und betreibt dort, in Dannenberg, das Tattoostudio Red Flag Tattoo.

Du bist im Dezember 1991 in Kaltenkirchen geboren. Bist du da auch aufgewachsen und zur Schule gegangen?

Nein. Aufgewachsen bin ich hauptsächlich im Landkreis Winsen an der Luhe und in Kutenholz, einem kleinen Dorf bei Stade.

Also wurdest du in Kaltenkirchen nur geboren?

Wir haben zu der Zeit wohl in der Nähe gewohnt. So ganz genau weiß ich leider auch nicht mehr alle Wohnorte – wir sind damals wegen der beruflichen Entwicklung meines Vaters viel umgezogen: Anfangs hat er lange als Groß- und Außenhandelskaufmann gearbeitet und war auch viel im Ausland, später dann als selbstständiger Versicherungsmakler.

Und so kam auch der Umzug von Winsen nach Kutenholz zustande?

Ja.

Seid ihr schließlich irgendwo fest gelandet oder ging das Umziehen immer so weiter, bis du ausgezogen bist?

Die letzten Jahre sind wir nur noch einmal innerhalb des Landkreises Stade umgezogen. Mich hat es dann später beruflich wieder Richtung alte Heimat gezogen und ich bin in Lüneburg gelandet.

Wann war das? Nach deinem Schulabschluss?

Nach meiner Ausbildung zum Land- und Baumaschinenmechaniker Ende 2012, Anfang 2013. Ich bin direkt nach der Ausbildung wegen der Meisterschule nach Lüneburg gezogen.

Wie kam die Ausbildung zustande?

Meinen Schulabschluss der mittleren Reife habe ich 2009 in Fredenbeck bei Stade gemacht. Danach war ich eigentlich relativ orientierungslos. Ich habe in meinen letzten Sommerferien viele verschiedene Praktika absolviert und mich dann für die Richtung entschieden.

Klingt nicht so, als wäre das eine Herzensentscheidung, sondern eine pragmatische Entscheidung gewesen. Einfach, weil man das so macht: Ausbildung, Beruf, Rente.

Ja, sicher. So hat das hat man doch beigebracht bekommen. Und du hast Hausbau, Baum pflanzen und Kinder kriegen vergessen. (lacht)

Ging das von deinen Eltern aus? „Junge, mach was Vernünftiges!“?

Also den Druck, etwas zu erreichen und vernünftige Entscheidungen zu treffen, bekommt man, denke ich, von allen Seiten zu spüren. Und diese Lebensschritte „Ausbildung, Beruf, Rente“ auch.

Hast du deinen Meister schließlich gemacht? Dem Druck nachgegeben? Oder hast du vorher realisiert, dass es alternative Wege gibt?

Ich habe in der Zeit auf der Meisterschule gespürt, dass ich mich nicht wohl fühle. Dass der Weg und der Druck, möglichst weit auf der Karriereleiter zu kommen, zumindest für mich nicht richtig sind. Ich habe damals die Schule bis zum Schluss absolviert, hätte allerdings noch eine Nachprüfung machen müssen, um alle Teile zu bestehen. Das habe ich jedoch nie umgesetzt, da ich allein beim Gedanken an die Meisterschule schon Magenschmerzen bekam… Und so habe ich mich für mein Bauchgefühl entschieden und es nicht mehr gemacht. Das war mehr oder weniger der Wendepunkt in meiner Entwicklung, an dem ich angefangen habe, das zu tun, mit dem ich mich am besten fühle.

Wie haben deine Eltern reagiert, als du ihnen sagtest, dass du deinen Meister nicht machen würdest?

Sie sind zu der Zeit davon ausgegangen, dass ich mich in den durchgefallenen Fächern nachprüfen lasse. Später habe ich ihnen erklärt, warum ich das nicht mehr machen will, und sie haben mich verstanden.

Haben deine Eltern dich dabei unterstützt? Auch als es darum ging, Tätowierer zu werden? Und wo wir gerade an deinem Wendepunkt sind: Hieß „womit ich mich am besten fühle“ gleich Tätowieren? Oder gab es noch andere Stationen, bevor du damit anfingst?

Ich habe eine Zeit lang in einer Werkstatt gearbeitet und bei einem damaligen Kumpel im Abbruchunternehmen. Parallel habe ich mit dem Tätowieren angefangen. Das war damals nur ein Hobby beziehungsweise der Ausgleich, den ich zu meinem normalen Leben brauchte. Dass ich damit mal Erfolg haben oder das beruflich machen würde, hätte ich nicht gedacht. Als es so weit kam, dass ich mehr mit meinem Hobby als mit meinem normalen Beruf zu tun hatte und mich entscheiden musste, haben meine Eltern mich sehr bestärkt zu der Entscheidung, Tätowierer zu werden. Ich denke, dass sie erkannt haben, dass mich das um einiges glücklicher macht.

Wann hast du mit dem Tätowieren angefangen?

Im Zeitraum der Meisterschule hatte ich den ersten Kontakt zum Tätowieren. Das muss Ende 2013 gewesen sein. Richtig intensiv oder regelmäßig habe ich Mitte, Ende 2014 angefangen. Und nur zwei Jahre später habe ich meinen eigenen Laden aufgemacht.

Das ständige Umziehen in deiner Kindheit ließ mich vorhin an den Alltag reisender Tätowierer denken. Du bist also vorher gar nicht viel gereist, warst auf Messen und Gasttätowierer? So wie das klassischerweise oft ist?

Doch, aber alles im Schnelldurchlauf. (lacht) 2015 habe ich mit meinem damaligen Lehrmeister einen Shop eröffnet, aus dem ich allerdings, aus persönlichen Gründen, sehr schnell wieder ausstieg. Danach habe ich bis Mitte 2016 viel als Gasttätowierer in Stade und Lüneburg und auf Messen in Deutschland, Österreich und Luxemburg gearbeitet. Ein Zurück in den normalen Job, nach dem Ausstieg aus dem ersten Laden, kam für mich nicht mehr infrage.

Mit „normalen Job“ meinst du deine Ausbildung beziehungsweise irgendwas abseits der Kunst?

Ja genau. Der anständigen, normalen Job.

Wieso betonst du das Zurück in den normalen Job so deutlich? Gab es einen Teil in dir, der zurück zur Sicherheit wollte?

Ich hab mir das immer als Sicherheit eingeredet, ja. Falls die Entscheidung zu Tätowieren vielleicht schief geht. Allerdings habe ich das sehr schnell verworfen. Als ich endlich all meine Zeit in die Kunst stecken konnte, war für mich recht schnell klar, dass ich nichts anderes mehr machen will.

Du hast bei Kunst eben Anführungszeichen in die Luft gezeichnet. Wieso?

Weil es in meinem Fall ja auch ein Job beziehungsweise eine Dienstleistung ist. Obwohl ich eigentlich immer mehr den künstlerischen Teil für mich sehe, sowie die Arbeit und den Kontakt mit vielen verschieden und interessanten Menschen. Ich musste beim Tätowieren nie viel überlegen oder lernen – ich mache einfach, was ich denke oder fühle, und nicht was ich in 3,5 Jahren auf irgendeiner Schule gelernt habe.

Dann sind also Job und Dienstleistung für die Anführungszeichen verantwortlich, aber du denkst von dir als Künstler. Ich kenne es gerade bei Tätowierern anders, daher meine Frage. Mein Berliner Stammtätowierer sagt von sich, er sei Handwerker und habe nichts mit Kunst am Hut.

Ja, ich sehe mich als Künstler. Im Laufe der Zeit habe ich aber erkannt, dass auch viel Arbeit hinter der Kunst steht, sobald man ein Studio eröffnet. Die ganze Orga, Buchhaltung, Steuer, Personal und so weiter. Ich versuche dabei die Waage zu halten zwischen Handwerk und Kunst. Besser noch: Wenn man mehr die Kunst darin sieht und es trotzdem wie eine gute Handwerksfirma führen kann. Denn wenn die Organisation läuft wie in einem Handwerksunternehmen, hat man den Kopf frei für Kunstprojekte auf der Haut.

Fällt dir das leicht? Die Waage zu halten? Und wenn du mal grüblerisch bist oder Zweifel hast, kommen die eher von der Handwerksseite? Ängste vor Steuernachzahlung, ob weiterhin KundInnen kommen, ob du die Miete zahlen kannst und so weiter?

Ich denke schon. Gerade zu Anfang ist es nicht leicht, ein Konzept zu entwickeln, mit dem ein Shop reibungslos läuft. Dazu braucht man gutes Personal, eine gute Auftragsabwicklung, Kalkulation der Einnahmen und Kosten und so weiter. Bis man da seinen richtigen Weg findet, kann es schon mal krachen oder falsch laufen. Doch ich denke, mittlerweile entwickelt sich alles sehr gut in die richtige Richtung. Was die Kunst angeht, habe ich mir bisher selten Sorgen gemacht.

Wenn das doch mal der Fall ist, was sind das dann für Sorgen? Klassische künstlerische Zweifel? Ob deine Arbeit gut genug ist?

Ob die Arbeit gut genug ist, das sorge ich mich eigentlich immer. (lacht) Ich bin sehr selbstkritisch. Allerdings habe ich das mittlerweile als Eigenschaft akzeptiert, die es einem ermöglicht, immer noch ein Stück besser zu werden und künstlerisch weiter zu kommen in den verschiedenen Tätowiertechniken: neue Stile zu entwickeln oder zu verfeinern.

Was machst du in solchen sorgenvollen Momenten? Wie kommst du da raus?

Ich treffe meine Jungs, gehe in ne Kneipe, resette die Festplatte. (lacht) Spaß beiseite: Ich versuche, in solchen Fällen abzuschalten und an was anderes zu denken. Danach sollte man sich klar vor Augen führen, was man schon gemeistert hat, um bevorstehende Probleme klar zu analysieren. Wenn man einen klaren Kopf bewahrt oder ruhig an Probleme rangeht, lässt sich eigentlich alles lösen. Ich habe aber auch einen gesunden Freundeskreis und eine super hilfsbereite Familie und Schwiegerfamilie, die mir helfen, wo es geht. Und natürlich ne super Freundin, die mir allein im Laden viel Mist abnimmt.

„Wenn man einen klaren Kopf bewahrt oder ruhig ein Problem rangeht, lässt sich alles lösen“? Wer bist du denn – Jesus? Gibt es nie Momente, in denen du so verzweifelt bist, dass du alles hinschmeißen willst? Wo deine Kraftreserven aufgebraucht sind?

Nee, von Jesus halte ich nicht ganz so viel. (lacht) Ich sage ja auch nicht, dass es immer hinhaut. Als ich das erste mal meine Buchhaltung selber machen musste, durfte ich zwei Tage später meinen Laptop zur Reparatur bringen, weil dieser kurioserweise Flügel bekommen hat. (lacht) Das mit dem „klaren Kopf“ versuche ich als Leitfaden zu nutzen, ab und an geht der Kopf trotzdem zuerst durch die Wand. Und natürlich: Momente, in denen ich alles hinschmeißen möchte, gibt es auch. Es wird aber weniger, je eingespielter es läuft.

Bildquellen

  • IMG_2054: privat