Literaturkritiker lügen: Glaubt mir!

Stefan Meschs Lieblingsbücher haben 1000 Schwächen: eine Literaturkolumne – gegen falsche Hypes und seichte „Lesebefehle“.

Kein Lesebefehl! Vertraut mir einfach: Literaturkitiker fordern zu oft blindes Vertrauen!

Ich glaube, ich war noch nie bei einem Blogger oder Kritiker daheim – als Gast, privat, in ihrer oder seiner Wohnung. Doch ich überlege oft, was solche Menschen sagen, während sie Besucher durch den Vorgarten führen. Die Haustür öffnen. Flur, Treppenhaus oder Diele durchqueren.

Freunde warnen oft, bevor ich ihr Zuhause betrete: „Ich habe nicht aufgeräumt. Es sieht ganz schlimm aus gerade: Ich hoffe, das Chaos stört dich nicht.“ Bei Kritikern und Bloggern aber stelle ich mir oft vor, dass sie schon in der Einfahrt rufen: „Das wird einmalig! Falls du 2016 nur eine Wohnung betrittst: Nimm meine! Ein wichtiger Ort! Bedeutende Zimmer! An meiner Badematte führt kein Weg vorbei!“

Ich hasse „Lesebefehle“

Wer Bücher liebt, will diese Liebe oft auch weitergeben: seine Favoriten mit passenden Menschen verkuppeln. Begeisterung teilen! Doch Romane kosten vier, fünf Stunden Lese- und Lebenszeit oder mehr: Ein Großteil der Erwachsenen, die ich kenne, liest kaum Romane. Ihnen fehlt die Energie, sich eine Welt, Figuren langsam zu erarbeiten – wenn viele Serien, Filme, Games bei ähnlichem Zeitaufwand, aber weniger Mühe viel mehr Plot, Farbe, Tempo, Dramatik, Gefühl entwickeln.

Ich kenne kein Buch, das garantiert mitreißt – von Seite 1 an so viel Sog und Schwung entwickelt, dass ich jedem denkbaren Typ Leser versprechen könnte: Das durchzulesen „bringt mehr“, „macht mehr Spaß“, „macht glücklicher“ oder „ist wichtiger“ als ein Spaziergang, ein Nickerchen, Musikhören, Kino, ein Abendessen.

Natürlich spreche ich oft mit duldsamen, neugierigen Literatur-Liebhabern, Buchhändlern, Germanisten und Autoren – Menschen, die Bücher lieben. Oft aber haben sie so lange Leselisten und Stapel ungelesener Bücher, so viele eigene Termine, Prioritäten, Favoriten, dass eine Buchempfehlung laut sein muss, empathisch – oder hyper-persönlich: „Unbedingt kaufen! Lesebefehl! Das Buch der Stunde! Versprochen! Vertrau mir!“

Ich hasse diese „Lesebefehle“. Ich hasse falsche Superlative. Ich glaube, dass Lesen hilft. Ich bin empathischer, konzentrierter, interessierter – weiß, seit ich lese, mehr über Welt, Lebensumstände, Innenleben verschiedenster Personengruppen: Romane machen mich wacher. Differenzierter. Doch trotzdem könnte ich kein einziges Buch nennen, das „man gelesen haben muss“.

Ein „großes“ Buch? Ein „wichtiges“ Buch? Tatsächlich?

Lest gern Die Straße. Aber meinetwegen auch Die Wand. Oder den ersten Panem-Band. Oder Sartres Geschlossene Gesellschaft. Lest bitte irgendwann mal EINEN guten, existenziellen Roman über Einsamkeit, Überleben, Zivilisation. Ich liste auch gerne 20, 30 verschiedene Favoriten auf. Findet, was euch anspricht. Gebt allen Genres ein paar Chancen. So viele Bücher sind recht gut – ich werde niemals schreien: „Lest dieses eine! Sofort! Es geht nicht anders, es geht nicht besser!“

Bisher las ich etwa 1000 Romane, dazu – ich führe Buch, bei Goodreads – 1233 Comic-Sammelbände. Bei 2557 bewerteten Titeln vergab ich an bisher insgesamt 882 Bücher vier Sterne, an 158 Bücher fünf. Zusammen etwa 400 Romane, etwa 600 Comics und Graphic Novels, deren Lektüre sich für mich lohnte und die ich, alles in allem, für gelungen halte. Doch heißt das auch: „empfehlenswert“?

Wird euer Lesen, euer ganzes Leben besser, falls ich diese knapp 1000 Titel vor eure Wohnungstür schütte? Und schreie: „Lesebefehl“?

Ich liebe Literaturkritik – als Leser und als Kritiker. Ich liebe Empfehlungen. Begründungen. Listen. Ich „glaube“ ans Feuilleton, ich „glaube“ an Blogs, ich „glaube“ sogar oft an Sternchen-Scores und kollektive Wertungen wie bei IMDb und Goodreads: Man kann in Worte fassen, was Bücher interessant und gelungen macht. Man kann es oft sogar in simple Zahlen und Sternchen fassen. Urteile und Wertungen fallen mir leicht.

Aber: Mir fällt grotesk schwer, laut durchs Netz, durch Zeitungen, durch den Bekanntenkreis zu rufen „Lies das! Du musst!“ So gern ich Menschen und Bücher immer neu verkupple – ich glaube, die wenigsten meiner 10000 „guten“ Bücher passen pauschal auf viele potenziellen Leser.

„Zwingend“? „Alternativlos“? Oder chaotisch wie eine Wohnung?

Bücher, die ich liebe, beschreibe ich oft so vorsichtig, nervös wie viele Menschen ihre „chaotischen“ Wohnungen: „Das Buch hat viele Eigenheiten. Ich hoffe, diese Eigenheiten stören dich nicht. Ich kann nicht sagen: ein Muss! Ich werde nie behaupten, das sei eine alternativlose, bedeutende Lektüre – und jeder muss ihr sechs bis zehn Stunden seines Lebens widmen.“

Der Roman, dem ich 2015 die meisten Leser wünschte, war Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen. Intelligent, toll recherchiert, entspannt erzählt, liebenswert, warmherzig und aktuell: 5 von 5 Sternen. In keinem Text lernte ich so schnell so viel über Geflüchtete in Deutschland. Doch sollte das „jeder“ lesen? Die Hauptfigur bleibt viel zu seicht. Oft werden seitenlang nur Fakten referiert. Literarisch kann Erpenbeck viel mehr. Falls jemand denkt: „Das hier ist fade, tölpelhaft belehrend, leblos, trocken und überheblich“, verstünde ich die Kritik.

Vor Weihnachten empfahl ich meine Lieblings-Graphic Novels 2015. Die Kurzkritiken, Empfehlungen wurden geöffnet, geliked, geteilt. Doch wenige Leute blätterten später tatsächlich durch die Comics. Habe ich niemanden anstecken, begeistern können?

„Ich hatte mich ja sehr auf die Empfehlungen gefreut“, schreibt eine Freundin, „am Ende aber nichts von deiner Liste mitnehmen können. Entweder sprachen mich Zeichenstil/Genre nicht an, oder es gab Einschränkungen wie ‚Kein Spannungsbogen. Unsympathische Welt‘, die mich dann davon abhielten, es zu versuchen.“

Sie hat Recht. Über meinen Lieblingscomic 2015 schreibe ich u.a.: „I am a Hero ist langsam. Oft hässlich, unsympathisch, grotesk. Eine unerträgliche Figur in einer unerträglichen Geschichte – die mich […] überfordert und angeekelt hat. […] Schleppend und richtungslos.“

komplex, aber durchwachsen: empfehlen oder nicht?

Empfehle ich nur süffig-simple, seichte-aber-mitreißende Häppchen wie Star Wars: Episode VII oder den Bauernhof-Bestseller Herbstmilch, verliere ich den Respekt jener Menschen, die anspruchsvolle Empfehlungen suchen – gern auch: in anspruchsvollen, langen literaturkritischen Texten.

Genauso oft aber verliebe ich mich in sperrige, holprige, unbequeme Literatur mit tausend offensichtlichen Schwächen – etwa Frank Witzels Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1968. Ein Buch, dessen über 800 Seiten ich nur vier, fünf Bekannten guten Gewissens empfehlen kann. Mir fehlt die Bräsigkeit, Selbstgewissheit, das Marktschreier-Ego vieler Blog- und Feuilleton-Kollegen, die über solche komplexen-aber-durchwachsenen Titel jubeln.

Videospiel-Journalismus und -Kritik sind einen Schritt weiter: Noch vor zehn Jahren suchten Test-Zeitschriften nach einem Katalog möglichst objektiver Kriterien. Kategorien wie „Spielspaß“, „Grafik“, „Originalität“, komplizierte Formeln und Ampel-, Stern-, Prozentangaben. Viele der besten Gaming-Journalist*innen haben einen viel subjektiveren, persönlicheren Blick: Sie schreiben über ihre Routen, Reisen, Wege durch ein Spiel, seine Welt und die kulturellen Hallräume. Statt Tester, Gutachter in einem Spiele-TÜV werden sie zu Reisenden, die ihre Eindrücke festhalten. Viele Literaturblogs, die ich schätze und empfehle, funktionieren ähnlich.

„Falls du Holzböden hasst, haben wir ein Problem.“

Ich kann mich jedem Roman erzählend nähern, persönlich, plaudernd, detailreich – und Stimmungen vermitteln. Ich kann versuchen, als möglichst neutraler akademischer TÜV-Gutachter Erzählmechaniken, Poetiken abzuklopfen. Im Netz kann ich als Blogger, Goodreads-Reviewer, Facebook-Freund in jeder Form und Länge auf große Fragen reagieren: Vom literaturkritischen „Ist das gut?“ zum subjektiven „Gefällt es mir?“, vom privaten „Was interessiert mich draran?“ zum kulturjournalistischen „Was ist hier interessant, aktuell, gesellschaftlich symptomatisch?“

Nur die EINE, wichtigste Ja-/Nein-Frage rund um jedes gelesene Buch macht mir Mühe: „Lohnt sich das? Lesen oder nicht?“ Ich muss wissen, wer das fragt. Und, was der Fragende an Romanen schätzt, sucht, toleriert. Jedes Mal, wenn ich pauschal für jeden potenziellen Leser antworten muss mit einem klaren Ja oder Nein, klinge ich wie jemand, der spontan Besuch bekommt – zerknirscht, tastend, scheinbar unentschieden:

„Die Wohnung hat keinen Whirlpool und keine Dachterrasse. Nicht jedes Fenster ist perfekt isoliert. Vielleicht ist dir die Treppe zu steil oder zu eng. Ich mag das Badezimmer, doch die Küche ist zugig. Es gibt viele Steckdosen. Ich finde das toll. Aber ich hoffe, dich stören sie nicht. Falls du Holzböden hasst, haben wir ein Problem. Überall wurde gesaugt. Doch einige Stellen könnte man noch feucht wischen: Ich weiß.“

Ich werde nie schreien: „Los! Zieht alle ein, am besten heute! Nirgendwo ist es schöner. Lesebefehl! Ein Muss! Ein wichtiger Autor, ein unvermeidliches Buch! Hier stimmt einfach alles!“ Alle Kreter lügen. Alle Kritiker pauschalisieren. Ich kenne 1000 recht gute Bücher. Doch jedes hat 1000 Eigenheiten. 1000 potenzielle Probleme, für 1000 potenzielle, ganz verschiedene Leser.

Bildquellen

  • Literaturkolumne Zebrabutter Stefan Mesch: Bildrechte beim Autor